Bochum. Die Leiterin des Kulturrats Gerthe, Ilse Kivelitz, geht mit der WAZ durch ihren Stadtteil. Der ist immer noch geprägt durch allgegenwärtige Zechen-Vergangenheit. Und von einigen Discountern
„Das Discounter-Karussell hat viel zerstört“, sagt Ilse Kivelitz beim Flanieren in der Nähe des Kulturwerks Lothringen. Und tatsächlich hatte die kleine Fußgängerzone schon beim Anmarsch zum Treffpunkt mit der Stadtteilpatin einen für den frühen Samstagnachmittag arg trostlosen Eindruck vermittelt. Doch der folgende Rundgang mit Ilse Kivelitz geriet trotzdem nicht zum Jammermarsch. Gerthe ist ein Stadtteil mit vielen kleinen Widersprüchen.
Rund um das Kreativzentrum Lothringen versammelt sich schon Disparates: ein funktionierendes Kulturzentrum, das aber über eine größere regionale denn eine lokale Ausstrahlung verfügt, große offenbar beliebte Discounter, bemerkenswerte Landmarken als Kunst im öffentlichen Raum, die bildmächtig an die Bergbau-Historie erinnern und hübsche Siedlungen, be(gerthes) Wohnen im Grünen. „Das ist das Gute an Gerthe“, sagt Ilse Kivelitz, „es gibt viel Natur rundherum, Wälder und Grün ist in unmittelbarer Nähe“.
Nebeneinander des Verschiedenen
Von Lothringen aus laufen wir die Heinrichstraße herunter. Auch hier: ein abgerissener Kiosk und Art-Deco-Häuschen, moderne Bürogebäude und die historische Turnhalle, alte Bauernanwesen und ein nigelnagelneuer Radweg, das prächtige Amtshaus, erbaut in schönster Gründerzeitarchitektur, das Schulzentrum und die griechische Grillstube.
Nicht weit dahinter: der „friedliche Nachbar“, ein Kleingarten-Verein mit TV-Bekanntheit und neuerdings Luci-Flebbe-Krimi-Spielort. Bei soviel Nebeneinander des Verschiedenen fragt man sich, wer sind denn die Gerther eigentlich? „Es gab hier schon früh ein Bürgerbewusstsein“, referiert Ilse Kivelitz aus der stolzen Geschichte der ehemals eigenständigen Gemeinde, „Auch jetzt arbeitet die Interessengemeinschaft eifrig an einem Wir-Gefühl“.
Musiker-Stammtisch nutzt alten Kiosk
Dort, wo die Heinrichstraße auf den Castroper Hellweg trifft, da steht die Kitsch-Bude. Ein Architektur-Kultur- Projekt, das Ilse und ihr verstorbener Mann Gerd Kivelitz jahrelang verfolgt haben. Heute nutzt das schmucke Häuschen, das 1928 als Kiosk in repräsentativer Torhaus-Architektur erbaut worden war, ein Musiker-Stammtisch. Der Straßenlärm lässt nicht mehr zu.
Über den laut Schild „billigsten Supermarkt Deutschlands“ lacht Ilse Kivelitz: „Die auf dem Schild angegebenen Preise sind seit Jahren die gleichen“. Joghurt 0,25 und Aufschnitt 0,60 Cent – verschiedene Sorten.
Zechenhäuschen für die „Bergarbeiterhühe“
Zurück geht es durch die kleinen, gemütlichen Straßen rund um den Markt. Etwa die Schwerinstraße mit ihren Zechenhäuschen, die sich durch recht große Gärten für die Kleintierhaltung auszeichnen. Kivelitz: „Etwa für Ziegen, die Bergmannskühe“. Dann der Markt: Der große karreeförmig bebaute Platz könnte allerdings einen besser besetzten Wochenmarkt vertragen, findet Ilse Kivelitz.
An den Bergbau erinnern hier immerhin zwei Artefakte im Marktgarten. Einerseits der letzte Kohlenwagen von Lothringen I/II, andererseits eine Seilscheibe der Zeche Erin in Castrop, wo zahlreiche Arbeiter nach der Schließung der Gerther Zeche noch einmal Arbeit fanden.
Zum Ende des Rundgangs trifft die Gegenwart noch einmal auf Nostalgie. Aus der „Renne“ ist eine problematische Einkaufsstraße geworden, den „Westfälischen Hof“, einst Treffpunkt ganz Gerthes, wird es auch nie wieder geben.