Bonn. In Talkshows konnte er beredt erklären, „warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Seine Therapie dagegen ist jetzt ein Fall für das Landgericht Bonn.
Er ist ein gefeierter Bestsellerautor, beliebter Gast in Talkshows von Lanz bis Will: Michael Winterhoff, ist Deutschlands bekanntester Kinder- und Jugendpsychiater. An diesem Februartag in Bonn bleibt er stumm: Er sitzt auf der Anklagebank, die Staatsanwaltschaft wirft ihm Körperverletzung in 36 Fällen vor. Er soll Kinder und Jugendliche medikamentös ruhiggestellt haben. Seine Anwältin sieht ihn als Opfer einer Medienkampagne.
Mehr als 50 Zuhörerinnen und Zuhörer und zahlreiche Medienvertreter drängten sich am Mittwoch Im Saal 11 des Landgerichts Bonn. Der 70-Jährige ist ein Promi, hat vor gut fünf Jahren mit seinen Büchern und seinem Plädoyer für einen autoritäreren Erziehungsstil mehrere Bestseller geschrieben (“Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) Säle gefüllt, wenn er vor Fachpublikum und Laien sprach, in zahlreichen Talkshows seine Thesen vertreten, wie man den schwerst erziehbaren Kindern, den „Systemsprengern“ entgegentreten kann.
„Einseitige mediale Vorverurteilung“, sagt die Verteidigerin
Über Erziehungsmethoden wird gestritten, seit es Kinder gibt. Wenn nun aber ein hoch angesehener Kinder- und Jugendpsychiater zu Methoden greift, die zumindest strittig sind, ist die Fallhöhe ungleich größer. „Wir erleben hier ein Verfahren aufgrund einseitiger medialer Vorverurteilungen“, so seine Anwältin Kerstin Stirner in ihrem Eröffnungsplädoyer. In Gang gekommen sei das ganze nur durch einen einseitigen Fernsehbeitrag des WDR im Jahr 2021. Zuvor hat sie sich schützend vor ihren Mandanten gestellt, um wenigstens einige Fotografien und Kameraaufnahmen zu verhindern.
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Ihr Mandant hat das Licht im Rücken, hier im Saal 11, wo sonst unter anderem die spektakulären Cum-Ex-Prozesse verhandelt werden. In diesem Fall haben Anklage und Verteidigung die Seiten getauscht: Denn auf der Anklageseite ist es deutlich voller: Zahlreiche Patienten von Michael Winterhoff haben Nebenklage eingereicht. Winterhoff hat drei Anwälte an seiner Seite, unter anderem einen Spezialisten für Medienrecht.
Medien hätten das Bild eines Schwerstkriminellen gezeichnet, die Durchsuchung seiner Praxis sei in Anwesenheit der Presse erfolgt, Winterhoff habe Polizeischutz gebraucht, mittlerweile seine Praxis schließen müssen. „Es geht hier nicht nur um die Existenz unseres Mandanten, sondern wie wir mit medizinischen und therapeutischen Entscheidungen umgehen“, so Stirner.
36 von vermutlich mehreren hundert Fällen angeklagt
Zuvor hatte die Staatsanwältin die Anklageschrift verlesen: 36 Fälle aus den Jahren 2004 bis 2021 hat sie zur Anklage gebracht, in vermutlich vielen weiteren hundert Fällen hat Winterhoff auch zu jener Therapie gegriffen, die ihm jetzt zur Last gelegt wird: Er soll, so der Vorwurf, Kindern und Jugendlichen ohne ausreichende Diagnose und Anlass ein stark ruhig stellendes Medikament namens Pipamperon beziehungsweise das entsprechende Nachahmerpräparat Dipiperon verschrieben haben. „Gefährlicher Körperverletzung durch Beibringung von Medikamenten“,lautet der Tatvorwurf.
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Ein Raunen geht hie und da durch den Saal, als die Fälle namentlich vorgestellt werden, als beschrieben wird, wie lange Keanu, Damian, Benjamin, Eva, Lara und viele weitere Kinder und Jugendliche in NRW, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen bekommen haben. In einem Fall wurde es zur Dauermedikation über 15 Jahre. Die Wirkung beschreiben die Kinder und Jugendlichen so: „Ich habe mich gefühlt wie ein Roboter.“ Müdigkeit, Übergewicht, steife Gliedmaßen, das seien häufige Nebenwirkungen, angenommen wird auch eine Auswirkung auf die Hirngröße. Schlimmer noch: Selbst, wenn das Medikament abgesetzt werde, könnten Nebenwirkungen dauerhaft zurückbleiben, so die Staatsanwältin.
Die Medikamente seien für die gestellten Diagnosen nicht zugelassen gewesen, ohnehin seien die Symptome wie Autismus, ADHS, Bindungsstörungen und Depressionen nicht ausreichend belegt, die Eltern seien über Risiken, Nebenwirkungen und mögliche Alternativen zu dem Psychopharmakon nicht aufgeklärt worden, so der Vorwurf der Staatsanwältin.
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Nun ist es nichts Ungewöhnliches, dass ein Präparat im sogenannten „Off-Label-Use“ auch für Behandlungen verwendet wird, für die es von Herstellerseite nicht zugelassen wurde. Die Zulassungsprüfungen im Kinder- und Jugendbereich sind kaum zu absolvieren. Winterhoff und seine medikamentöse Therapie, so erläutert es Anwältin Stirner, sei in allen diesen Fällen die letzte Option gewesen. Pipamperon werde heute häufiger denn je verschrieben, bloß darüber reden würde keiner der behandelnden Kinder-und Jugendpsychiater.
Nur zwei der 36 Minderjährigen hätten zumindest bei einem Elternteil gelebt, die übrigen seien als schwer erziehbar oft in mehreren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gewesen. Winterhoff sei häufig die letzte Rettung gewesen mit seinen Ansätzen. Ja, Pipamperon habe die Kinder und Jugendlichen ruhiger gemacht, aber damit in vielen Fällen die Betroffenen überhaupt erst für weitergehende Therapieangebote geöffnet, so schildert es Kerstin Stirner. Falls es überhaupt Nebenwirkungen gegeben haben sollte, müsse die Anklage nachweisen, dass sie zweifelsfrei auf die Verabreichung genau dieses Medikaments zurückzuführen gewesen sei.
Verteidigerin: Es gibt doch gar kein Motiv
Und überhaupt: Welche Motivation hätte Winterhoff haben können? „Er hätte mit gleichem wirtschaftlichen Ergebnis auch andere Medikamente verordnen können.“ Gerade psychiatrische Behandlungen beruhe eben nicht auf Labordiagnostik und eindeutigen Befunden, sondern sei Erfahrungsmedizin. Was heute ein Arzt für richtig und angemessen halte, könne in zehn Jahren völlig anders gesehen werden. Wegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch wegen des Wandels der Gesellschaft.
Die Betroffenen, so ihr Vorwurf, würden in den Medien ihre Vorwürfe immer wieder erneuern dürfen, dabei würden die Schilderungen der Nebenwirkungen von Mal zu Mal drastischer. Für sie eine Art selbst erfüllende Prophezeiung, die ihren Mandanten in den beruflichen und medialen Untergang treibt.
Nebenklägerin: Intime Details aus Patientenakte öffentlich gemacht
Dass dieser Kampf um die mediale Deutungshoheit auf beiden Seiten nicht gerade zimperlich geführt wird, machen die Ausführungen einer Anwältin der Nebenklage deutlich: Erst vor wenigen Tagen habe Winterhoffs Medienanwalt auf „X“ Details aus den vertraulichen Ermittlungs- und Fallakten öffentlich gemacht und ihre minderjährige Mandantin Lea als „Systemsprengerin“ tituliert.
Dabei sei diese lediglich in Obhut genommen worden, weil ihre Mutter wegen Depressionen in eine Klinik musste. Winterhoff stellte eine psychische Ausnahmesituation bei Lea fest und verordnete vom Start weg das umstrittene Medikament, so ihr Vorwurf. Lea ist einer der 36 Fälle, die nun an zunächst 40 Verhandlungstagen bis Ende Juli hinein vor dem Landgericht Bonn mit zahlreichen Zeugen und Sachverständigen erörtert werden.