Attendorn. Vor zwei Jahren wurde der Fall in Attendorn publik - nun zeichnet sich ein Ende der zähen Ermittlungen ab. Unter Verdacht: die Mutter.
Die Frau schiebt einen Kinderwagen, vorbei an dem Haus, das sie scheinbar nicht weiter beachtet. Mehrmals in der Woche muss sie dort entlang. „Jedes Mal denke ich: Hier muss das gewesen sein.“ Das, was niemand in der beschaulichen Stadt Attendorn (25.000 Einwohner) im Kreis Olpe für möglich gehalten hätte. Die junge Mama sagt auch: „Ich sehe da nie jemanden.“ Niemanden, der hineingeht, niemanden, der hinausgeht. Wie eigentlich immer.
Zwei Jahre ist es jetzt Anfang November her, dass öffentlich wurde, was sich in diesem Haus wohl abspielte: Ein damals acht Jahre altes Mädchen soll von seiner Mutter fast sein ganzes Leben lang eingesperrt worden sein im Haus der Großeltern - und unter Duldung dieser, denn alle lebten zurückgezogen unter einem Dach. Das Mädchen ging nicht in den Kindergarten, nicht in die Schule, wohl auch nicht zum Arzt und traf offenbar keine Freunde.
Eingesperrtes Mädchen: Kein Hinweis auf Misshandlungen oder Mangelernährung
Als es in Obhut genommen wurde, war es aber den Umständen entsprechend wohlauf. Keine Hinweise auf körperliche Misshandlungen oder Mangelernährung. Gegen die Mutter und die Großeltern laufen Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft Siegen wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Den Eltern wurden Teile des Sorgerechts entzogen.
Aufwändige Ermittlungen sind das, seit das Mädchen im September 2022 durch die Polizei und das Jugendamt befreit wurde. Doch der einzigartige Fall biegt jetzt juristisch auf die Zielgerade ein. „Unsere Ermittlungen sind mittlerweile so weit fortgeschritten, dass wir einen Abschluss in den nächsten Wochen, spätestens aber bis Ende dieses Jahres machen werden“, teilt Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, Sprecher der Anklagebehörde in Siegen, auf Nachfrage dieser Redaktion mit. Im Klartext: Ob es zur Anklage kommt oder nicht, steht sehr bald fest. Aber er sagt auch: „Es ist ein extrem komplexer Fall.“
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Problem für die Ermittler: Alle Personen, die etwas zu den Lebensumständen des Mädchens sagen könnten, haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Entweder weil sie sich als Beschuldigte selbst belasten könnten oder wegen direkter verwandtschaftlicher Verhältnisse zu Beschuldigten. Von diesem Recht machten sowohl die Mutter als auch die Großeltern des Mädchens offenbar Gebrauch. Das Mädchen selbst durfte auch zu seinem eigenen Schutz nicht von den Ermittlern vernommen werden. Deswegen musste die Staatsanwaltschaft Sekundärquellen heranziehen: Einschätzungen von Ärzten zum Beispiel, die das Kind seit der Inobhutnahme behandelt haben. Eine kleinteilige, aufwändige Arbeit, die sich nun dem Ende nähert. Mit weiterhin offenem Ausgang - auch zwei Jahre danach.
„Weiterhin besteht der Kontakt zwischen der Mutter und dem Mädchen. Sie sehen sich, so viel kann ich sagen.“
Zwei Jahre, in denen die Stadt längst wieder zur Ruhe gekommen ist, ohne dass der Fall vergessen wäre. Das Mädchen, mittlerweile fast elf Jahre alt, lebt noch immer in einer Pflegefamilie. „Weiterhin besteht der Kontakt zwischen der Mutter und dem Mädchen. Sie sehen sich, so viel kann ich sagen“, berichtet Peter Endemann, Anwalt der Mutter. Weitere Details zum Umgang will er nicht nennen. Man warte derzeit darauf, „zu welcher Entscheidung die Staatsanwaltschaft gelangt“. Auch der Vater hatte sich juristischen Beistand gesucht. Anwalt Jens Sonderkamp teilt aber auf Nachfrage mit, dass er seit Monaten keinen Kontakt zum Kindsvater gehabt habe und dass das Mandat mittlerweile beendet sei.
Mutter und Vater des Mädchens waren bei dessen Geburt im Dezember 2013 wohl schon kein Paar mehr. Durch einen angeblichen Umzug nach Italien im Jahr 2015 täuschte sie ihn und die Behörden über ihren Aufenthaltsort. Ihr Motiv? Unklar. Versteckt lebte die Mutter mit ihrer Tochter in dem unscheinbaren Haus nahe der Attendorner Innenstadt.
Anonyme Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung - aber keine Beweise
Mehrfach soll die Mutter in Attendorn gesehen worden sein. Dem Kreisjugendamt lagen über Jahre hinweg wiederholt anonyme Hinweise über eine mögliche Kindeswohlgefährdung vor. Diesen sei „das Jugendamt mehrfach nachgegangen“, es habe aber „keine stichhaltigen Beweise“ gegeben, die diese Thesen bekräftigten, teilte der Kreis damals mit. Erst mit einem Rechtshilfeersuchen und der Botschaft aus Italien, dass die Frau nie an der angegebenen Adresse in Kalabrien wohnhaft gewesen sei, verschaffte sich die Behörde mit einem familiengerichtlichen Beschluss Zutritt zum Haus.
Zu spät? Als der Fall publik wurde, stellte der Kreis in Aussicht, „die verfahrensbezogenen Vorgänge im eigenen Haus“ zu prüfen. Mit dem Ergebnis, „dass es keine kausal mit dem Attendorner Fall bedingten Konsequenzen im Jugendamt gab und gibt“. Jedoch: Gegen eine mittlerweile pensionierte Mitarbeiterin wird wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen ermittelt. Eine Entscheidung in dieser Angelegenheit fällt erst nach Abschluss des Ursprungsverfahrens, wie die Staatsanwaltschaft mitteilt.
Vier-Augen-Prinzip bei möglichen Kindeswohlgefährdungen
Nach dem Fall sind sechs neue Sozialarbeiterstellen im Kreisjugendamt besetzt worden. Diese stünden aber ebenfalls nicht in Zusammenhang mit dem Fall Attendorn, sondern seien Folge des geänderten Kinderschutzgesetzes in NRW. Dies beinhalte erhöhte Anforderungen an den Kinderschutz, wie unter anderem das sogenannte Vier-Augen-Prinzip bei der Untersuchung von Fällen möglicher Kindeswohlgefährdung.
Die Frau, die mit dem Kinderwagen an dem Haus vorbeizieht, sagt, dass sie nicht verstehen könne, wie eine Mutter so etwas tun könne. Und warum? „Vergessen ist der Fall nicht“, sagt sie. „Ich denke öfter daran und frage mich, was jetzt wohl mit denen wird.“ In wenigen Wochen wird es erste Antworten auf diese Frage geben.