Hagen/Ennepetal. Mit den letzten Messungen im Herbst soll die Affäre um Luftverschmutzung in Ennepetal beendet werden. Doch das, was war, wirkt nach.

Unabhängig davon, wie toxisch die Luft je war: die Atmosphäre war schnell sehr giftig geworden. Am Straßenrand auf dem Weg ins Gewerbegebiet Oelkinghausen in Ennepetal hatte jemand damals mehrere Holzkreuze in den Boden gerammt. Mit schwarzer Schrift waren sie beschrieben. „PCB“ stand darauf. In jenem Gewerbegebiet befindet sich der Sitz der Firma, die im Februar 2020 im Verdacht steht, potenziell Krebs erregende Stoffe bei der Produktion freizusetzen. Genauer: Polychlorierte Biphenyle, kurz PCB.

Rund sechs Jahre sind vergangen, seit die ersten weißen Flocken mit dem Stoff darin in die einige hundert Meter entfernten Gärten schwebten und die Bewohner in Aufruhr versetzten. Nun soll der deutschlandweit beachtete Fall endgültig ad acta gelegt werden: In diesem Herbst, so teilt der Ennepe-Ruhr-Kreis mit, würden die letzten der turnusmäßigen Messungen vorgenommen. Die Werte seien „inzwischen seit 18 Monaten unauffällig und liefern insgesamt keine Hinweise auf eine Belastung der Luft mit PCB“.

PCB in Ennepetal: Bundesregierung involviert

Ende der Geschichte? Deckel drauf? So einfach ist es nicht. Die Affäre, in der es zu Blutuntersuchungen von Bürgern und Verzehrverboten von selbst angebautem Gemüse kam, in die die Bundesregierung eingeschaltet wurde und ein Bundesgesetz angepasst werden musste sowie Millionen investiert werden mussten, wirkt an vielen Stellen nach. Und sie hat viele Wahrheiten.

Da ist zum Beispiel die Wahrheit von Roland Wocknitz, die eine andere ist als die des Ennepe-Ruhr-Kreises. Wocknitz ist der Kopf der Bürger-Initiative, die seit Jahren zum Teil massiv Druck ausübt und gerade zu Beginn der Affäre einen Produktionsstopp in der verdächtigten Firma forderte. Die jüngste Nachricht des Kreises zum Ende der Messungen traf ihn unvorbereitet. Die darin befindliche Information, dass die PCB-Belastung „wieder auf das Übliche in NRW zu findende Niveau gesunken“ sei, irritiert ihn.

„Die Firma biw erkennt an, für die Belastungen mit nichtdioxin-ähnlichen PCB-Varianten 47, 51, 68 in der Vergangenheit verantwortlich zu sein, für die es keine Grenzwerte und keine toxikologisch beeinträchtigenden Nachweise gibt.“

Ralf Stoffels
Geschäftsführer der Firma biw

Er habe nachgeschaut. Der gemessene Wert von 2,8 Nanogramm pro Quadratmeter, argumentiert er in seiner Kernforderung, liege „immer noch deutlich über dem Schwellenwert“ von 2. „Es ist deshalb dringend erforderlich, den Verursacher dieser überschreitenden Emissionen klar zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen.“ Zudem fordert er „einen verbindlichen Plan, der sicherstellt, dass die Emissionen dauerhaft auf 0 gesenkt werden“. Dieser Plan müsse regelmäßig überprüft und bei Verstößen konsequent sanktioniert werden.

Wocknitz sagt, man wisse zu wenig über PCB und die Langzeitwirkungen. Sorgen um die Gesundheit der Bürger seien daher angebracht. Aus im Kern zehn Leuten bestehe seine Bürger-Initiative noch, sagt Wocknitz.

Sieben Millionen Euro kostete die Umrüstung der Firma

Ralf Stoffels ist Geschäftsführer der Firma biw Isolierstoffe, die Silikon verarbeitet und Kunststoffleitungen für die Automobil- und Raumfahrtindustrie liefert. Seit 1987 produziert das Unternehmen mit seinen 600 Mitarbeitern im Gewerbegebiet Oelkinghausen und verwendete seitdem einen chlorhaltigen Vernetzer. Den Vernetzer, aus dem das PCB entstand. So eindeutig, das ist Stoffels Wahrheit, sei das aber alles gar nicht.

Es gibt unterschiedliche Unterarten von PCB, insgesamt 209 sogenannte Kongenere. Jene, die dem Dioxin ähnlich sind und laut Stoffels damit gefährlicher. Und jene, die das nicht sind. „Die Firma biw erkennt an, für die Belastungen mit nichtdioxin-ähnlichen PCB-Varianten 47, 51, 68 in der Vergangenheit verantwortlich zu sein“, antwortet Stoffels auf die Anfrage dieser Redaktion. Für diese PCB gäbe es „keine Grenzwerte und keine toxikologisch beeinträchtigenden Nachweise“.

Zudem sei man „nicht einziger Verursacher von PCB-Belastungen“, weil „auch andere Varianten nachgewiesen wurden, die in der Silikonverarbeitung technisch nicht entstehen können“. Mit anderen Worten: Er wirft dem Kreis indirekt vor, Ergebnisse falsch interpretiert und nur gegen ihn vorgegangen zu sein. Mittlerweile, das ist unstrittig, verzichtet die Firma biw schon seit 2022 auf den chlorhaltigen Vernetzer. Die Produktion musste dafür umgestellt werden: Sieben Millionen Euro investierte die Firma in die Entwicklung und den Bau einer Filteranlage sowie die Umstellung aller 150.000 betroffenen Produkte.

Kreis sieht keine Versäumnisse, keine Fehlinterpretationen

Die Unterscheidung, die Stoffels vornimmt, hält der Ennepe-Ruhr-Kreis offenbar für unzulässig und stellt fest, dass „im Rahmen der Diskussionen um die PCB-Belastung - seitens des Unternehmens – immer wieder versucht wurde, dioxinähnliche PCB in den Fokus zu rücken und die vom Unternehmen zu verantwortenden PCB davon abzugrenzen“. Die Behörde macht klar: „Insgesamt gibt es 209 Polychlorierte Biphenyle. Ihre Produktion ist seit 1989 verboten, seit 2013 gelten sie als krebserregend“, heißt es in einer aktuellen Antwort des Kreises auf eine entsprechende Anfrage dieser Redaktion. Und weiter: Keine der Unterarten „darf im Interesse der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in die Umwelt gelangen“.

Der Kreis sehe bei sich keine Versäumnisse, keine Fehlinterpretationen und empfindet auch die Androhung der Schließung des Betriebes, die einst im Raum stand, weiterhin für angemessen. Auch weil er das Landesumweltamt inhaltlich auf seiner Seite weiß. Dieses antwortet auf die Frage, ob es in der Vergangenheit andere Verursacher von PCB-Belastungen gegeben haben könne: „In Ennepetal wurden keine weiteren Quellen identifiziert.“ Und wie gefährlich waren die Stoffe nun, die in die Luft gerieten? „PCB 47 und PCB 51 gehören aufgrund ihrer Struktur nicht zu den toxikologisch relevanten PCB, die eine ähnliche Toxizität wie die gesundheitsschädlichen Dioxine aufweisen“, heißt es in der Antwort: „PCB 68 hingegen wird als relevant hinsichtlich der Toxizität eingeschätzt.“

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Juni 2024 eingestellt

Es ist ein komplizierter Fall mit weitreichenden Folgen: In Sorge geratene Bürger konnten sich Bluttests unterziehen, um die Belastungen zu bestimmen. Nur 111 von 1520 berechtigten Bürgern nutzten das Angebot. Ergebnis nach Auswertung durch die RWTH Aachen: null Fälle gesundheitlicher Folgen. Es gab vom Landesumweltamt durchgeführte Luft- und Bodenproben, Grünkohl- und Löwenzahnanalysen, sowie die daraus resultierende Empfehlung, in bestimmten Gebieten selbst angebautes Obst und Gemüse nicht zu verzehren.

Die Staatsanwaltschaft Hagen ermittelte mehr als vier Jahre lang gegen vier Verantwortliche bzw. Beschäftigte der Firma biw wegen des Verdachts der Luftverunreinigung und dem Verstoß gegen das Chemikaliengesetz. Gutachten folgte auf Gutachten. Zur Anklage kam es letztlich nicht. Die Ermittlungen wurden im Juni 2024 gegen die Zahlung einer Geldauflage in niedriger fünfstelliger Höhe eingestellt. Ein durchaus übliches juristisches Verfahren, wenn die Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse an der Verfolgung der Straftat durch die Zahlung der Auflage als beseitigt ansieht - und die Beschuldigten auch zustimmen.

Das Symbolbild zeigt die Buchstaben PCB. Sie haben lange in Ennepetal Sorgen bereitet.
Das Symbolbild zeigt die Buchstaben PCB. Sie haben lange in Ennepetal Sorgen bereitet.

Ennepetal war ein Präzedenzfall, nach dem das Bundesimmissionsschutzgesetz abgeändert werden musste: Entsprechende Anlagen wurden in den Katalog der genehmigungsbedürftigen Anlagen mit einem höheren Überwachungs- und Umweltstandard aufgenommen. Das Land Nordrhein-Westfalen ermittelte neun weitere Betriebe, die in der Produktion von Formteilen aus Silikon-Kautschuk chlorhaltige Vernetzungsmittel einsetzen, unter anderem in Witten, Wuppertal und Herne. „Viele Anlagen haben den Vernetzer gewechselt, wodurch es bundesweit zu einer deutlichen Reduzierung der Freisetzung von PCB gekommen ist“, wie der Ennepe-Ruhr-Kreis mitteilt.

Soweit bekannt, hat niemand gesundheitlichen Schaden genommen. Die Holzkreuze am Wegesrand erweisen sich also rückblickend eher als überzogene Botschaft. Aber die Angst der Anwohner existierte - und sie tut es heute noch. Ein Anwohner, der anonym bleiben möchte, fasst die Stimmungslage zusammen „Bei uns betroffenen Anwohnern bleibt noch immer ein tiefes Gefühl von Wut, Unbehagen und Misstrauen.“

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