Mülheim. Wohnraum schaffen ohne Flächenverbrauch: Wie weit die Idee in Mülheim gereift ist, der Wohnungs- und Klimanot mit Haus-Aufstockungen zu begegnen.

Wohnraum ist knapp, insbesondere bezahlbarer. Gleichzeitig gilt es, dem Stadtklima zum Wohle möglichst wenig Fläche zu versiegeln. Das Aufstocken von bestehenden Häusern wäre da ein Weg, den Stadtentwicklung zu aller Zufriedenheit gehen könne, appellierte jüngst der Bezirksverband der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). In Mülheim gibt es tatsächlich aktuell ein Großprojekt dazu – aber auch weit ausgeprägte Zurückhaltung.

Laut Peter Köster, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft für Mülheim, Essen und Oberhausen, sind Anstrengungen nötig, angesichts der allgemeinen Teuerungsrate weiterhin ausreichend bezahlbaren Wohnraum in der Stadt zu bieten. Nicht nur Vermieter seien gefordert, Mieten erschwinglich zu halten. Auch seien Bau-Investitionen nötig.

Mülheims IG BAU fordert alternative Lösungen im Wohnungsbau

Köster und seine Gewerkschaft warnen vor einer „Lähmungsphase beim Wohnungsbau“. Angesichts der aktuell schwierigeren Neubau-Bedingungen durch Materialengpässe, steigende Preise und anziehende Zinsen sei es dringend nötig, nach alternativen Wegen zu suchen. Köster fordert etwa die Umwandlung von nicht mehr genutzten Büroimmobilien in Wohngebäude. Aber eben auch die Dachaufstockung bei Wohnhäusern, die in der Nachkriegszeit bis zum Ende der 90er-Jahre gebaut wurden. Dies biete „ein enormes Potenzial: Viele neue Wohnungen sind allein hier durch On-Top-Etagen möglich – und ebenfalls günstiger als jeder Neubau“, so Köster. Es lohne sich da, in eine Offensive zu starten.

Immer mal wieder kochte das Thema in der jüngeren Vergangenheit hoch. Rund 6500 zwischen 1950 und 1990 errichtete Gebäude, die grundsächlich dafür infrage kämen, zählte die Stadt vor sechs Jahren, als das Thema von der SPD schon einmal in die Diskussion eingebracht worden war. 1200 davon seien in der Hand der örtlichen Wohnungsunternehmen SWB und MWB.

Mülheims Baudezernent begrüßt Initiativen, sieht aber auch Hürden

Schon seinerzeit stellte die Bauverwaltung aber fest, dass Theorie und Praxis in der Sache zwei verschiedene paar Schuhe sein könnten. Auch heute verweist Baudezernent Felix Blasch darauf, dass nicht einfach auf jedes Gebäude ein zusätzliches Geschoss draufzusetzen sei. Für jedes einzelne Haus sei zunächst zu prüfen, ob es die Statik überhaupt zulasse. Daneben sei baurechtlich zu beachten, dass eine Gebäude-Aufstockung auch im Einklang stehen müsse mit vorhandenen Bebauungsplänen oder dem § 34 des Baugesetzbuches, der für Gebiete ohne Bebauungsplan festlegt, dass sich Gebäude in ihrer Ausprägung dem Umfeld anzupassen haben, also nicht einfach so in die Höhe schießen dürfen.

[+++ Haus, Wohnung, Grundstück - Alles zum Wohnen und Bauen in Mülheim +++]

Ein Übersichtswerk für die Stadtplanung anzulegen, in dem ähnlich wie beim vorhandenen Solarkataster auch für Gebäude-Aufstockungen häuserscharf aufgezeigt würde, wo Eigentümer tätig werden könnten, verfolgt die Stadtverwaltung aktuell nicht. Gerne prüfe man aber im Einzelfall, wenn Eigentümer auf das Bauamt zukämen, sagt Blasch, dass die Verwaltung grundsätzlich jedes Wohnbau-Projekt, dass zusätzliche Versiegelung vermeiden helfe, unterstütze. „Gerade im Einzelhandel sollte man darüber nachdenken, warum nicht etwa Discounter in ein mehrstöckiges Haus eingebettet werden“, so Blasch.

Covivio sattelt in Mülheim-Dümpten je ein Geschoss auf 30 Häuser drauf

Ein Drohnen-Blick auf die Covivio-Siedlung in Dümpten: Die Aufstockung und Sanierung 30 alter Wohngebäude lässt sich das Wohnungsunternehmen einen zweistelligen Millionenbetrag kosten.
Ein Drohnen-Blick auf die Covivio-Siedlung in Dümpten: Die Aufstockung und Sanierung 30 alter Wohngebäude lässt sich das Wohnungsunternehmen einen zweistelligen Millionenbetrag kosten. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die privaten Eigentümer zu Aufstockungen zwingen könne man selbstredend nicht. So kennt Blasch aktuell auch nur ein Beispiel, bei dem allerdings durch Aufstockungen von alten Wohngebäuden gleich 60 neue Mietwohnungen entstehen. Das Wohnungsunternehmen Covivio setzt es in seinem Altbestand an der Straße „Auf dem Bruch“ in Dümpten um. 30 Bestandsgebäude sollen dort nicht nur saniert werden, sondern bekommen auch eine Dachaufstockung.

Lesen Sie auch:

Covivio investiert dort einen zweistelligen Millionenbetrag. Ein Besuch vor Ort zeigt den Baufortschritt. Die ersten neun Mehrfamilienhäuser der Siedlung sind ausgebaut, auch mit Photovoltaikanlagen und Luftwärmepumpen als Ergänzung für eine ansonsten mit Gas gespeiste Hybridheizung ausgestattet. Ob Covivio sein ehrgeiziges Ziel wird halten können, schon im Herbst 2023 das gesamte Projekt abzuschließen, war am Freitag nicht zu erfahren. Aber man ist am Werk.

Aufstocken von alten Wohnhäusern für Mülheims SWB „kein akutes Thema“

Und wie denken die Mülheimer Größen am Wohnungsmarkt, SWB und Mülheimer Wohnungsbau (MWB), über die Möglichkeit nach, Bestandsimmobilien aufzustocken? Bei der SWB sei das „kein akutes Thema“, sagte Sprecherin Christina Heine am Freitag. Will heißen: Es gibt derzeit kein Projekt dazu bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft.

Geprüft habe das Unternehmen die Option durchaus, sagt Heine. Man habe „eine Handvoll“ möglicher Projekte ausgemacht, etwa auch einen ganzen Straßenzug, an dem dieses hätte umgesetzt werden sollen. Problem an dieser Stelle: Nach baurechtlicher Prüfung sei erkannt worden, dass die Aufstockung nur an einer Straßenseite möglich gewesen wäre. „Das sieht einfach nicht aus“, habe man davon aber Abstand genommen.

Auch der Mülheimer Wohnungsbau passt: „Kein solches Projekt geplant“

Bei der SWB sieht man neben statischen und baurechtlichen Hürden auch noch ein anderes Problem: Wer mehr Wohnungen schafft, muss auch mehr Stellplätze zur Verfügung stellen. Vor Ort sei das oft nicht umzusetzen, wolle man Grünanlagen dafür nicht weiter beschneiden (und versiegeln), weil diese den Mietern auch Lebensqualität im direkten Wohnumfeld bieten sollen. Tiefgaragen zu bauen, sei auch keine Lösung der Versiegelungsproblematik, so Heine. Unter der Erdschicht sei die Fläche dann doch versiegelt, könne etwa Regenwasser nicht natürlich versickern. Im Neubau aber achte die SWB darauf, die Bauflächen in baurechtlich zulässiger Höhe optimal zu nutzen, um im Sinne des Klimaschutzes möglichst wenig zu versiegeln.

„Die Nachverdichtung bei Modernisierungsmaßnahmen ist für die Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft nichts Neues, aber eine Aufstockung haben wir bisher noch nicht vorgenommen“, sagt auch MWB-Prokurist Marc Peters, der bei der Genossenschaft als Leiter der Abteilung „Wohnen und Bewirtschaften“ fungiert. Zwar prüfe man bei Modernisierungsmaßnahmen im Bestand immer auch die Möglichkeit einer Aufstockung. Diese Möglichkeit sei aber längst nicht bei allen Gebäudetypen gegeben. Und selbst wenn: Kosten, Aufwand und Nutzen müssten dann auch „im richtigen Verhältnis zueinander stehen“. So stellt Peters auch für den MWB fest: „Im Augenblick ist bei uns kein solches Projekt geplant.“

>> Ein paar Zahlen

7,8 Millionen Quadratmeter Wohnraum, verteilt auf 92.040 Wohnungen, gibt es laut IG BAU aktuell in Mülheim. Die Gewerkschaft verweist dabei auf Daten des Statistischen Bundesamtes, die das Pestel-Institut für sie analysiert habe.

Eine Studie der TU Darmstadt war vor sechs Jahren davon ausgegangen, dass aus bautechnischer Sicht 60 bis gar 90 Prozent aller Gebäude durch ein Staffelgeschoss aufgestockt werden könnten, ein zusätzliches Vollgeschoss wäre gar bei 85 bis 90 Prozent möglich. Allerdings, so wurde eingeräumt, seien dafür teilweise aufwändige Tragstrukturen zu schaffen, die eine Investition verteuern.