Gelsenkirchen. (Vor)lesen bringt viel – aber was, wenn das Kind nicht will? Was der „Geschichtenerzähler auf Consol“, André Wülfing, und eine Erzieherin raten.

Wie endet jede Leserunde allzu schnell? Im Gerangel zwischen den Geschwistern! Berivan Tas, Mutter von einer Sechsjährigen und einem Vierjährigen, ist ein wenig verzweifelt. Allzu gerne würde sie ihren beiden Kindern vorlesen. Und dann gibt es doch nur wieder Chaos. „Deswegen bin ich hier, ein Buch bis zum Ende zu lesen, so weit bin ich bislang nicht gekommen“, berichtet sie. Hier: Das ist die Kita Rotthauser Markt, Dependance an der Karl-Meyer-Straße, in der an diesem Abend allen Eltern mit kleinen Lesemuffeln und schwierigen Zuhörern geholfen werden soll – nicht nur von anderen Eltern und einer Erzieherin, sondern vor allem auch von André Wülfing, als „Geschichtenerzähler auf Consol" ein wahrer Profi-Erzähler.

Lesemuffel? Diese Tipps gibt ein Geschichten-Erzähler Gelsenkirchener Eltern

Und der Experte hat folgenden Tipp: An einem Tag gibt’s Lese-Zeit für ihre Tochter, am anderen für ihren Sohn – man sollte die Kinder ruhig aufteilen. Ein lieb gewonnener Brauch entsteht, immer am selben Ort, so wird das Vorlesen zu einem besonderen Punkt innerhalb des Tagesablaufs. Aber Berivan Tas sieht weitere Schwierigkeiten.

Ihr kleiner Sohn sei ein sehr aktives Kind und gerne in Bewegung, erzählt sie. Erzieherin Laura Fabry gibt den Rat, dass sich solch kleine Zappelphilipps selber aussuchen, was gelesen wird – „weil das Interesse da sein muss.“ Davon hängt natürlich auch ab, wie lange sie überhaupt lesen. Vorlesen zu einem Ritual zu machen – ob Berivan Tas dazu motiviert sei, fragt Laura Fabry. „Aber wie!“ antwortet die junge Mutter lachend.

Andre Wülfing, der „Geschichtenerzähler auf Consol“, (links) und Erzieherin Laura Fabry (rechts) mit den Eltern von der Gelsenkirchener Kita Rotthauser Markt: Die beiden Experten gaben den wertvolle Tipps zum (Vor-)lesen.
Andre Wülfing, der „Geschichtenerzähler auf Consol“, (links) und Erzieherin Laura Fabry (rechts) mit den Eltern von der Gelsenkirchener Kita Rotthauser Markt: Die beiden Experten gaben den wertvolle Tipps zum (Vor-)lesen. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Bei zurückhaltenden Kindern gibt Laura Fabry die Anregung, geduldig und ruhiger zu sein, die Kinder zu betrachten, um so herauszufinden, was sie gerade möchten. Allerdings: Geschichten und Erzählungen sollten immer zum Wortschatz des Kindes passen, sind zu viele unbekannte Wörter dabei, „schaltet das Kind ab“, weiß die Expertin. „Wichtig ist, dass man auch beim Lesen alters- und entwicklungsgerecht auf den Wortschatz achtet.“

Lohnen tue sich all das auf jeden Fall. Denn: Kinder, denen vorgelesen wird, hätten „einen größeren Wortschatz, lernen leichter lesen, sind einfühlsamer“, hebt die Erzieherin hervor. Das Vorlesen sei eine gute Vorbereitung für die Schule, vor allem aber ist es auch das: „Bindungsarbeit mit dem Kind“. Doch nicht nur Vorlesen kann beflügeln, sondern auch das Erzählen. „Ich mache das gerne, dass ich mit den Kindern eine Geschichte erfinde“, berichtet Fabry den gespannt lauschenden Eltern. So bekomme sie ein gutes Gespür dafür, „was die Kinder den Tag über beschäftigt hat“, was ihren Alltag ausmacht.

Gelsenkirchen: So gehen Eltern mit dem Thema „Lesen“ um

Das sieht auch Birgül Adem so. Die Familie lebt deshalb seit der Geburt der ersten Tochter vor 14 Jahren ohne TV-Gerät – dafür aber mit ganz vielen Büchern. Sie und ihr Mann lesen mit den Kindern abends, das sei ihr festes Ritual, kleineren Zoff unter den Geschwistern gibt es bei ihnen nicht. Warum sie ohne Fernseher leben? Birgül Adem erzählt von Kindern in ihrem Umfeld, die zu häufig davor gesessen hätten – „die haben das Sprechen verlernt.“

Der fünfjährige Sohn von Mohammed Parlak kommt regelmäßig in den Genuss von besonderem Vorlese-Service: An einem Tag darf der Kleine einer Geschichte auf türkisch zuhören, von seiner Mutter vorgelesen, am anderen dann einer Geschichte auf deutsch, vorgelesen von Mohammed Parlak selbst. Bei Familie Mittag ist das schon schwieriger: „Alle zusammen, das wird halt nix“, sagt Familienvater Rene Mittag. Dafür sei der Altersunterschied seiner drei Kinder einfach zu groß. Seinem Sohn im Kindergartenalter will er demnächst trotzdem noch mehr Vorlese-Zeit geben.

„Vorlesemonitor“: 39 Prozent der Kinder wird selten oder nie vorgelesen

Seit 2007 untersucht die „Stiftung Lesen“ gemeinsam mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der „Deutsche Bahn Stiftung“ bei einer Vorlesestudie das bundesweite Leseverhalten und die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. Beim so genannten „Vorlesemonitor“ wurden im vergangenen Jahr zuletzt über 800 Eltern in persönlichen Interviews befragt.Die Ergebnisse wurden am 7. November 2022 vorgestellt. Die Studie zeigt: 39 Prozent der ein- bis achtjährigen Kinder werde selten oder nie vorgelesen. Ein Grund dafür könne die Verfügbarkeit von Lesestoff sein, heißt es in einer Pressemitteilung zum Vorlesemonitor. Je mehr Kinderbücher in einem Haushalt vorhanden sind, desto regelmäßiger würden Eltern ihren Kindern vorlesen.Und weiter heißt es: „Auch die Bildungsvoraussetzungen der Eltern haben Einfluss darauf, wie oft Kindern vorgelesen wird. Denn mehr als die Hälfte der Eltern mit formal geringer Bildung lesen ihren Kindern selten oder nie vor – die Kinder sind damit häufig bereits vor Schuleintritt benachteiligt.“

Das Wohltuende des Abends ist für die Eltern ein Perspektivwechsel: André Wülfing ist ja nicht nur gekommen, um Unterstützung zu geben, sondern um das zu machen, was er ziemlich gut kann: „Dann erzähle ich jetzt einfach mal eine Geschichte“, sagt er demnach auch gleich zu Beginn des Abends, um kurz darauf noch einmal zu stoppen, denn das ist ihm wichtig. Dass er das Publikum in Kontakt nehmen kann, wie er es nennt, mit den Augen. Und so eine Verbindung aufbaut, mehr Aufmerksamkeit schafft – das gelingt übrigens ganz leicht auch zu Hause, beim Vorlesen des nächsten Buches.