Oberhausen. Das Fach Sozialwissenschaften soll nach Willen der Landesregierung aus den Universitäten verschwinden. Zwei Oberhausenerinnen protestieren.

Direkt mit einem Paukenschlag hat das Studium für Federica Perra (19) und Clara Torkildsen (20) begonnen. Nach zwei, beziehungsweise vier Wartesemestern konnten die beiden Oberhausenerinnen im Oktober endlich ihr Studium aufnehmen. Lehramt sollte es sein; beide studieren Germanistik und Sozialwissenschaften (SoWi) an der Uni Duisburg-Essen.

Doch Mitte Januar dann die plötzliche Wendung. Per Mail flatterte der Brandbrief des „Deutschen Verbands für politische Bildung“ in die Fakultäten: Dort erfahren die Studierenden, dass die schwarz-gelbe Landesregierung ihr Studienfach umbenennen will – in „Wirtschaft-Politik“.

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Seit dem Schuljahr 2019/2020 ist diese Bezeichnung bereits in der Sekundarstufe I an den weiterführenden Schulen Alltag; Sozialwissenschaften lernen Schüler erst in der Oberstufe wieder. Eine logische Konsequenz, das Studienfach anzupassen, sagen die einen.

Aber dies sehen die Betroffenen ganz anders. „Klammheimlich wurde das von FDP und CDU auf die Agenda gestellt“, meint Clara Torkildsen. „Wir wollen verhindern, dass das einfach durchgewunken wird.“ Und das mit aller Kraft: Landesweit arbeiten die Fakultäten und Fachschaften an den Universitäten in NRW zusammen, starten Petitionen und werden nicht müde, in den sozialen Medien unter dem Hashtag „#sowibleibt“ auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Soziologischer Aspekt fehlt erst im Studium – und dann in den Schulen

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Der Aufschrei war groß, berichten die beiden Studierenden. „Zuerst stand sogar im Raum, dass alle, die jetzt noch Sozialwissenschaften studieren, ihre Lehrberechtigung verlieren sollen“, entrüstet sich Federica Perra. „Dann hätten wir nach Bachelor-, Masterstudium und Referendariat noch anderthalb Jahre an Qualifikationskursen teilnehmen müssen, um unterrichten zu können. Da ist die Regierung zum Glück relativ schnell zurückgerudert.“

Doch andere Probleme bleiben bestehen. SoWi besteht aus den drei Grundsäulen Wirtschaft, Politik und Soziologie. „Wenn unser Studium nicht nur umbenannt, sondern umstrukturiert wird, geht der soziologische Aspekt verloren, den wir für wichtig erachten“, erklärt Clara Torkildsen. „Dann hätten wir auch einfach Politik und Wirtschaft studieren können. Wir haben uns bewusst für diesen Studiengang entschieden und sogar darauf gewartet – jetzt soll uns das genommen werden. Unsere Fähigkeiten und unser Wissen werden so limitiert.“

Arbeitsplätze von Soziologie-Professoren auf der Kippe

Die Regierung vergesse, wie wichtig soziologische Faktoren im gesellschaftlichen Zusammenleben seien, finden beide Frauen. Besonders Corona hätte gezeigt, dass man mit rein wirtschaftlich motivierten Vorgehensweisen nicht weiterkomme. Auch die Universitäten schalten sich nun ein – Arbeitsplätze von Soziologie-Professoren stünden mit solch einem Beschluss auf der Kippe. Eine weitere Sache sei unverständlich: „Mit meinem Germanistik-Studium werde ich später auch das Schulfach Deutsch unterrichten. Wieso können wir dann nicht auch mit einem Studium der Sozialwissenschaft das Fach Wirtschaft-Politik unterrichten?“, fragt Federica Perra.

Auch David Fischer, Schulleiter des Hans-Böckler-Berufskollegs in Alt-Oberhausen, bemängelt das Vorhaben der Landesregierung. „Ich verstehe nicht, was das bringen soll. Berufsorientierung an Schulen muss in größeren Dimensionen gedacht werden. Jugendliche mehr an Wirtschaft heranzuführen, ist zwar sinnvoll, ersetzt aber nicht das größere Problem. Wenn an Inhalten etwas geändert werden muss, damit Schüler besser für den Weg ins Berufsleben gerüstet sind, kann das über die Lehrpläne geregelt werden. Es gibt keinen Grund, das Studium selbst anzupassen.“

Politik und Pädagogen geben den Studierenden recht

Schließlich sei es Pflicht von Lehrkräften, sich innerhalb ihrer Laufbahn weiterzubilden. „Sollte es durch Änderungen am Lehrplan nötig sein, das eigene Wissen aufzustocken, ist das über Fortbildungen machbar“, sagt Fischer, der ab kommenden Schuljahr selbst einen Bildungsweg mit wirtschaftlichem Schwerpunkt anbieten wird. „Mir fehlt der Realitätsbezug bei diesem Gesetzesentwurf.“

Soziologie

Soziologen untersuchen die Strukturen menschlicher Gesellschaften. Dabei analysieren sie soziale Phänomene wie Erziehung, Kriminalität oder Arbeitslosigkeit und untersuchen die Strukturen sozialer Institutionen wie Betriebe, Familien, Parteien und Religionsgemeinschaften.Je mehr wirtschaftliche und soziale Probleme in einer Gesellschaft sichtbar werden, desto wichtiger wird soziologisches Fachwissen, um Erklärungsansätze zu gewinnen und Strategien zu entwickeln, wie diese Probleme analysiert und bearbeitet werden können.

Noch mehr Rückenwind aus Oberhausen bekommen die Studierenden von SPD-Landtagsabgeordneten Sonja Bongers: „Die Themen des Faches sind vielseitig und von enormer Relevanz für junge Menschen, auch hier bei uns in Oberhausen, sowohl in ihrer weiteren Schullaufbahn als auch für ein Leben in einer demokratischen Gesellschaft insgesamt.“ Eine Abschaffung sei der Tiefpunkt der aktuellen Bildungspolitik.

Wie es um die Zukunft der Sozialwissenschaften steht, bleibt erst einmal ungeklärt. „Es ist schwierig, mit dieser Ungewissheit umzugehen“, sagen die Studierenden. „Uns fehlt die Zukunftsperspektive.“