Gelsenkirchen. Das Gelsenkirchener Orchester begeisterte mit hochkarätigem Gastspiel bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Was das Publikum digital erlebte.
Wenn die Musik spielt, ist alles gut. Dann kann auch der Zuhörer daheim vor dem Bildschirm entspannt in großartige Klangwelten eintauchen. Die Konzertatmosphäre selbst aber blieb am Dienstagabend beim digitalen Gastspiel der Neuen Philharmonie Westfalen bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen bedrückend blutleer und erschreckend kühl. Dabei hatten die Musikerinnen und Musiker so lange darauf gewartet, endlich wieder gemeinsam auf großer Bühne live vor Publikum, wenn auch nur digital, spielen zu dürfen.
Vorweg: Das knapp anderthalbstündige Konzert selbst geriet dank eines anspruchsvollen, facettenreichen Programms zwischen Ruhe und Furor, eines erfrischend spielfreudigen Orchesters, wunderbarer Solisten und eines hochmotivierten Gastdirigenten zu einem beachtlichen Erfolg und musikalischen Genuss.
Zwischen Nichts und Normalität geht noch einiges fürs Konzert-Angebot
Streaming-Angebote sind wichtig und besser als Nichts. Aber zwischen Nichts und Normalität, da geht noch was. Zum Beispiel die Begrüßung des Publikums durch einen Moderator, wie es die Essener Philharmonie praktiziert, eine knappe Einführung ins Werk, wenn schon das Programmheft fehlt, die Vorstellung der Solisten. Hier leider Fehlanzeige. Das Wesentliche aber, die Musik, geriet tatsächlich zum Hochgenuss voller origineller Überraschungen.
Zum Konzert hatten die Ruhrfestspiele, die als Schauspiel-Festival unter dem Motto „Utopie und Unruhe“ ihren 75. Geburtstag feiern, eingeladen. Generalmusikdirektor Rasmus Baumann konzipierte ein stimmiges Programm zwischen Stille und Sturm und mit außergewöhnlichen Werken, die an Literatur und Schauspiel anknüpften. Baumanns berühmter und sinnstiftender roter Faden eben.
Am Pult des Landesorchesters beeindruckte der israelische Dirigent Noam Zur
Am Pult stand der israelische Dirigent Noam Zur, einst Kapellmeister am Essener Aalto. Mit Aaron Copland (1900-1990) und Leonard Bernstein (1918-1990) eröffneten zwei amerikanische Grenzgänger zwischen E- und U-Musik den Abend melancholisch und meditativ. Coplands „Quiet City“ entführt in intimer kammermusikalischer Besetzung feinnervig in die nächtliche Ruhe der Stadt, die niemals schläft. Die NPW musizierte atmosphärisch dicht. Solistisch glänzten mit souveräner Technik Solo-Trompeter Johann Konrad Schuster und Claudia Hellbach (Englischhorn).
Die „Three Meditations from Mass“ von Leonard Bernstein wechselten zwischen tiefer Dramatik und tänzerischer Leichtigkeit, Solocellist Alexander Hülshoff, Professor an der Essener Folkwang-Universität, beeindruckte nicht zuletzt mit einer eindringlichen, beseelt und sonor gespielten Melodie.
Bei einer Konzertentdeckung legte die Neue Philharmonie den magischen Klangteppich aus
Auf Joseph Haydns (1732-1809) heitere Sinfonie Nr. 60 folgte das noch junge Werk der britischen Komponistin Anna Clyne, die sich für „Sound and Fury“ (2019) gleichermaßen von Haydn als auch von Shakespeares „Macbeth“ inspirieren ließ. Klangschön breitete das Orchester den zauberhaften Soundteppich aus für das Shakespeare-Zitat „Tomorrow and Tomorrow“, gesprochen aus dem Off.
Musikalisch ein inspirierter und inspirierender Abend, dem der große Beifall eines Live-Publikums gewiss gewesen wäre.
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