Zwangsumzug in Pandemie-Zeiten: Die Gelsenkirchener MiR Dance Company probt derzeit in der Aula der früheren Hauptschule an der Mehringstraße.
Ein sattes Klacken dröhnt aus den Lautsprechern. Die 14 Tänzerinnen und Tänzer schreiten mit fokussiertem Blick genau im Takt die gelben Linien entlang, die auf der oberen Schicht des zweilagigen Gummiteppichs aufgezeichnet sind. Plötzlich verharren sie. Nehmen eine Pose ein. Und setzen danach ihren Weg fort. Dann kommt das erlösende Signal zur Pause. Fast alle ziehen sich sofort die Maske unters Kinn, um am Ende dieser körperlichen Anstrengung besser nach Luft schnappen zu können. Das Training der MiR Dance Company ist in Zeiten der Corona-Pandemie noch anstrengender als sonst.
Ab 2015 eine Flüchtlingsunterkunft
Der Himmel an diesem Vormittag über Scholven ist wolkenverhangen. Auf dem Platz vor der Hauptschule an der Mehringstraße stehen einige Autos. Junge Frauen und Männer in Trainingsklamotten öffnen die Glastür, die zur alten Aula führt. Bis zum Jahr 2014 paukten hier im Gebäude noch Kinder und Jugendliche. Nach der Schulschließung wurde es eine Flüchtlingsunterkunft. Nun ist es das provisorische Zuhause für die Tanztruppe des Musiktheaters im Revier.
Während es die räumlichen Gegebenheiten im Proberaum im MiR derzeit nicht erlauben würden, dort neue Choreographien mit der ganzen Gruppe einzustudieren, ist dies in der riesigen Aula locker möglich. Sie bietet Platz satt. Nicht nur deshalb sagt Giuseppe Spota, der Direktor der Dance Company, zu diesem Übergangsstandort im hohen Norden der Stadt: „Das hier ist unsere schöne, kleine Insel.“
Tänzer vermissen persönlichen Kontakt zum Publikum
Es liegen harte Wochen und Monate der Entbehrung hinter dem Tanzensemble, das sich aus 16 Könnern zusammensetzt, die aus Japan, Korea, Griechenland, Italien, Spanien oder Norwegen stammen und die nun in und um Gelsenkirchen herum leben. Die erste von vier geplanten Premieren in dieser Spielzeit („L’Orfeo“) durften sie nur vier statt der geplanten zwölf Mal vor Publikum auf die Bühne bringen. Alle Abende waren ausverkauft. Es folgte der Lockdown. „Und wir alle vermissen seitdem den persönlichen Kontakt zu unseren Zuschauern sehr“, spiegelt Spota die Stimmungslage im Team wider. „Ohne sie fehlt die besondere Energie.“
Zwei Proberäume bietet jenes Schulgebäude, das die Stadt den MiR-Verantwortlichen um den technischen Direktor Michael Merckel zur Verfügung gestellt hat. Neben der Aula ist dies ein alter Klassenraum, in dem nun Soli einstudiert werden können. Die holzvertäfelte Aula ist hingegen ideal, wenn die ganze Gruppe aktiv wird.
Wichteln vor Weihnachten
„Vorher waren wir bei den Proben immer in Kleingruppen aufgeteilt, um genügend Abstand einhalten zu können. Hier in Scholven können wir uns endlich wieder alle gemeinsam sehen“, sagt Spota. Das sei auch enorm wichtig für das Gemeinschaftsgefühl in dieser zu Saisonbeginn neu formierten Truppe. Eine weitere, vorweihnachtliche Maßnahme für das Teambuilding stellt das Wichteln dar, wenn sich die Teammitglieder untereinander kleine Geschenke bereiten. Auch so etwas schweißt zusammen.
Das wird auch rund um den Heiligen Abend vonnöten sein: Denn viele der Tänzerinnen und Tänzer werden zum Fest nicht nach Hause zu ihren Familien reisen, weil so manches der Heimatländer strikte Quarantäneregeln aufgestellt hat. Genau deshalb fährt auch Spota über die Feiertage nicht heim nach Bari, sondern bleibt in Gelsenkirchen bei seiner Company. „Ich hätte sonst das schlechte Gefühl, dass ich sie allein hier zurücklassen würde“, begründet er diesen Schritt.
Zuvor in Stuttgart und Mannheim
Vor seiner Zeit am MiR wirkte der Tänzer und Choreograph hierzulande bereits in Stuttgart, Wiesbaden und Mannheim. „Ich bin froh und dankbar so viele verschiedene Seiten von Deutschland kennen lernen zu dürfen“, sagt er. In Gelsenkirchen fühlt er sich längst wohl. „Man muss die Stadt und den Strukturwandel, den sie durchgemacht hat, aber erst versehen, um ein Gefühl für das Leben und die Leute hier zu bekommen“, so Spota. Wer hier auf die Nase fällt, der stehe auch immer wieder auf – ein Charakterzug, den er sehr schätzt.
Aufstehen müssen nach einer kurzen Pause auch die Tänzerinnen und Tänzer. Den aus zwei Gummischichten bestehenden Spezialteppich, der in der Aula verlegt ist, haben sie aus dem MiR mitgebracht. „Er ist nicht perfekt, aber okay zum Trainieren. Alles ist besser, als gar nicht zu proben“, ordnet Spota ein.
Gast-Choreograph Fabio Liberti übt gerade den zweiten Teil des Tanzabends „Notre-Dame de Paris“ ein. Dieser soll bald zumindest als Videostream präsentiert werden. Alle Anweisungen Libertis für diese international besetzte Truppe erfolgen auf Englisch. Giuseppe Spota steht am Rande und beobachtet konzentriert und mit Argusaugen jeden Schritt, jedes Bewegungsdetail seiner Schützlinge. „Man sieht, dass die Pandemie auch die Persönlichkeiten nachhaltig geprägt und beeinflusst hat“, sagt Spota. „Sogar ihr Tanz hat sich verändert.“ Was so ein Virus alles bewirken kann...