Ihr Gerechtigkeitssinn! Schon als Kind habe sie nichts so sehr aufgeregt, wie Ungerechtigkeit.
Wenn Katrin Feldermann erklären soll, was zu der doch eher ungewöhnlichen Situation geführt hat, in der sie lebt, dann kommt die Mülheimerin immer wieder auf ihren Gerechtigkeitssinn. Und vergisst anzumerken, dass auch ein gewisses Maß an Sturheit und Durchsetzungsvermögen dabei gewesen sein muss. Die 26-Jährige lebt in einer Favela im Süden der brasilianischen Millionenstadt Rio de Janeiro. Keine Ecke für Touristen.
Was sich leicht daher sagt, denn das Leben in einer Favela ist eigentlich keines. Zumindest nicht nach deutschen Maßstäben. Dort ist der Alltag Kampf. Gegen Hunger. Gegen Drogen. Gegen Krankheit. Gegen Gewalt. Gegen das Unrecht. Und gegen die Polizei, die doch eigentlich das Recht schützen sollte. Doch die Ärmsten der Armen in Brasilien haben kaum Rechte. Vor allem die Kinder nicht.
In zwei Jahren in der Favela Pereirao hat Katrin Feldermann mehr Kämpfe erlebt und ausgefochten, als ein ganzes Leben in Mülheim möglich machen würde. Dass die Sozialarbeiterin und - pädagogin, Vorsitzende des von ihr 2006 gegründeten Vereins „Amigos”, trotzdem dort lebt, wo sie helfen will, hat für sie viel mit Glaubwürdigkeit zu tun, die dem Gerechtigkeitssinn unbedingt hinzuzufügen wäre.
Die zierliche junge Frau würde auch nicht sagen, dass sie „trotzdem” dort lebt, wo sich der tägliche Polizeibericht - so es ihn denn öffentlich gäbe - lesen würde wie ein besonders übles Drehbuch für einen Horrorfilm. „Ich habe Erfahrung in der Entwicklungshilfe. Ich habe in Kinderdörfern in Brasilien und Afrika gearbeitet, kenne andere Projekte.” So sinnvoll jeder Einsatz auch sein mag, ist Feldermann überzeugt, ließe sich nicht einfach von außen ein Hilfskonzept überstülpen. „Man muss sich an der Realität orientieren und natürlich auch die Menschen in ihrem ganz eigenen Leben respektieren. Sie haben nur dieses Leben.”
Das, vor allem für die Kinder (etwa 300 leben in der Favela mit ihren 2000, 3000 Einwohnern), dringend der Veränderung bedarf. Ohne Kindergarten, ohne Schule, ohne medizinische Versorgung gibt es kaum Aussicht auf Teilhabe an einem besseren Leben, wie immer man besser definieren mag.
Das Schlimmste sei die Kriminalität, die Drogendealer, erlebt die Mülheimerin, die noch bis April hier sein wird, um für ihre Arbeit zu werben. „Haben Dealer die Kinder, vor allem um die Jungen geht es, erst in ihren Fängen, sind sie verloren.” Da will sie gegenhalten, Alternativen schaffen. „Ich weiß, dass es möglich ist.”
Katrin Feldermann hat bislang rund 10 000 Euro - 15 000 fehlen noch bis zur Fertigstellung - aus Spendengeldern in den Bau einer Kulturstätte gesteckt, wie sie den Treffpunkt optimistisch nennt, der vor allem den Kindern, „ihren Kindern”, einen Schutzraum bieten soll. „Damit sie Gewalt, Enge und Angst zumindest für kurze Zeit entfliehen können.”
Vor Ort lebt Feldermann, die gleich nach ihrem ersten Brasilienaufenthalt damit begann Portugiesisch zu lernen, selbst in ärmsten Verhältnissen. Sie kommt bei Familien unter, isst, wenn es sich ergibt und behauptet strahlend, ohne Brasilien könne sie nicht mehr leben. Fest überzeugt ist sie davon, dass die „Favela sie ausgesucht hat”, dass das „irgendwie so sein soll”. Und dass 2008 das Jahr der Amigos sein wird.
Der Verein trägt im Untertitel den Zusatz „Wir für die Kinder der einen Welt”. 30 eingetragene Amigos gibt es inzwischen, die sich über prominente Unterstützung freuen. So hat Helge Schneider die Schirmherrschaft übernommen. Gerade erhielt die Vereinsgründerin den „Bürgerpreis” der Mülheimer Grünen. „Was viel wichtiger war als die 300 Euro”, so Feldermann, die über jeden Cent glücklich ist, „war die öffentliche Anerkennung. Denn natürlich gibt es Anfeindungen, Zweifler, Leute, die mich für verrückt erklären.” Mag sein, startet sie den Versuch einer Erklärung, dass sie manchem Zeitgenossen wie ein schlechtes Gewissen erscheine, dem er lieber nicht begegnen würde. Dabei müsse ja nicht gleich jeder nach Brasilien ziehen, um zu helfen. „Aber es ist mein Weg.” Für den sich die junge Frau „fünf Jahre plus” gegeben hat. „Noch bin ich nicht restlos akzeptiert in der Favela. Meine Nachbarn sehen sehr genau hin, wie ernst es mir ist.” Ihr Ziel: „Irgendwann möchte ich dort überflüssig sein.”
Sie selbst bezeichnet sich als Realistin. „Man muss schon auf dem Boden der Tatsachen stehen, um dort Halt zu finden.” Weshalb sie bei den Besuchen in Deutschland jobbt, um ihr Existenzminimum von vielleicht 200 Euro pro Monat für den nächsten Aufenthalt zu sichern. Gleichzeitig arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit, an einem Buchprojekt, könnte sich irgendwann auch eine Professur vorstellen. Ihr Thema, auch im wissenschaftlichen Alltag, sind immer wieder „ihre” Kinder, die Straßenkinder von Rio.
Weitere Informationen über die Arbeit der „Amigos” finden sich im Internet unter www.amigos-eine-welt.deEin Spendenkonto ist eingerichtet bei der Nationalbank Mülheim, BLZ 360 200 30, Konto 90 73 981.