Mülheim..
Viele Hochbegabte schreiben schlechte Noten - wegen Unterforderung. Der Mülheimer Jannik Bußmann ist einer von ihnen. Trotz eines IQ von 140 hatte er in der achten Klasse an der Realschule einen Notenschnitt von 4,6.
Ein IQ von 140 – aber auf dem Zeugnis lauter Vieren, Fünfen, Sechsen. Diese Zahlen bestimmen das Leben von Jannik Bußmann.In der 8. Klasse der Realschule weist das Zeugnis des hochbegabten Jungen einen Schnitt von 4,6 auf.
Fast wird er durchgereicht bis zur Hauptschule. Stattdessen wagt er den Sprung aufs Gymnasium. „Es war ein Drahtseilakt“, erinnert sich der heute 18-Jährige zurück.
Jannik ist nicht zu dumm für die Schule – er ist zu intelligent. „Die Unterforderung fängt im Kindergarten bereits an“, diagnostiziert Heike Grüter-Hommerich, pädagogische Leiterin der Bildungseinrichtung Academia Generalis. Hochbegabte Menschen wie Jannik sind das Spezialgebiet der ausgebildeten Lehrerin und diplomierten Hochbegabtentrainerin. „Auf der weiterführenden Schule sind das geprägte Kinder“, fährt sie fort. Wenn sie eines gelernt haben, dann, dass Schule langweilig ist. Also passen sie nicht auf, verpassen Stoff – und haben irgendwann so große Lücken, dass die Noten darunter leiden. Das Interesse am Lernen verschwindet; die Langeweile bleibt: „Die Lehrer haben die Sachen mehrfach gesagt“, beschwert sich Jannik. „Nach dem ersten Mal ging’s mir auf den Sack.“ In der 8. Klasse zeigt er, warum: Als seine Lehrerin ihn in den Deutschunterricht der 10. Klasse steckt, schreibt er die Arbeit über Bertolt Brechts ,Leben des Galilei’ besser als die meisten Mitschüler. „Ich mag Herausforderungen.“
Wann er von seiner Hochbegabung erfuhr, weiß Jannik nicht mehr genau. „Irgendwann in der 9., 10. Klasse.“ Klar war er stolz nach dem Test; IQ 140, dieses Ergebnis erreicht gerade einmal einer von 100 Menschen; die Zahl gilt als Schwelle zur Genialität. „Aber es ist mir gleichgültig. Ich hab’ ja nichts davon, wenn ich’s nicht nutze. Es ist ja nur Potenzial.“ Potenzial, das er nicht nutzen kann. Ein Lehrer sagte einmal zu ihm, „dass ich für ihn ein ungeschliffener Diamant bin. Das hat mich schon umgehauen. Aber ich kann mich ja nicht selber schleifen.“ Seine Noten jetzt, in der Stufe elf der Gesamtschule, seien „Mittelmaß. Zufrieden bin ich nicht.“ Ob er die Elf schaffen wird, ist noch nicht sicher. „In diesem Schuljahr hab’ ich noch nicht ein einziges Mal Hausaufgaben gemacht oder für Klausuren gelernt.“ Er kokettiert nicht damit; es ist eine nüchterne Feststellung.
Ein IQ von 140 – und trotzdem hagelt es in der Schule Vieren, Fünfen, Sechsen. Diese Zahlen beschreiben, was an Menschen wie Jannik zerrt: Sie sind ein nicht eingelöstes Versprechen. Stört es ihn, dass er sein Potenzial nicht ausnutzen kann? „Ja!“ sagt Jannik wütend. Es ist das einzige Mal während des gesamten Gesprächs, dass der sonst so ruhig wirkende Junge laut wird. In diesem Moment ist zu spüren, dass aus dem Versprechen irgendwann eine Bedrohung geworden ist – für Jannik, für seine Lehrer, für die Gesellschaft. „Wenn das Underachievement einmal eingetreten ist, dann haben wir aber wirklich ein Problem“, bestätigt Grüter-Hommerich. Underachiever – Minderleister: Das ist der Ausdruck, mit dem die Forschung versucht, Hochbegabte wie Jannik zu beschreiben: Gerade weil sie so intelligent sind, versagen sie in einem Schulsystem, das sie ständig unterfordert. Underachievement ist kein Konstrukt der Wissenschaft, es ist ein echtes Problem: „Das geht bis in die Kriminalität. Die sind auch körperlich aggressiv, die sind suizidgefährdet.“ Grüter-Hommerich fügt hinzu: „Das sind Schäden, die sind nicht auf einen Menschen begrenzt. So jemand zieht sein Leid wie einen roten Faden durch die ganze Schule.“
Französisch Sechs, zwei weitere Hauptfächer Fünf, zwei Nebenfächer Fünf
Als er in der 9. Klasse nicht nur vor dem Sitzenbleiben, sondern vor dem schulischen Aus steht, schickt ihn eine Lehrerin in die Academia Generalis. Französisch Sechs, zwei weitere Hauptfächer Fünf, zwei Nebenfächer Fünf – so kommt er an, die Motivation so tief gesunken wie die Noten. Grüter-Hommerich stellt klar: „Du willst das – oder Du willst nicht.“ Nach einer Woche kommt der Junge wieder: „Ist ok.“ Wochenlang büffelt er in der Academia, bis zu acht Stunden täglich. Mit Erfolg. „Ich hab’ geweint, als der kam und sagte: Ich bin versetzt“, erinnert sich Grüter-Hommerich. „Sonst hätte er ohne Schulabschluss auf der Straße gestanden.“ Die 10. Klasse beendet er später mit einem Durchschnitt von 2,3 – doch in der Oberstufe bricht die 140 wieder ihr Versprechen, brechen seine Noten, bricht er wieder ein.
Ein dunkelhaariger Wuschelkopf unterbricht das Gespräch mit Grüter-Hommerich: Nils besucht die 9. Klasse, ein Schulpraktikum steht an. „Ich hab’ eine Gesprächszusage“, strahlt er. Grüter-Hommerich strahlt mit: Während der größte Teil seiner Klassenkameraden beim Bäcker oder im Büro sein Praktikum absolvieren wird, hat Nils sich nach einem Platz für Archäometrie umgesehen – und eine Bewerbung nach Berlin geschickt, wo sich eine Firma mit der Wissenschaft befasst, die Archäologen ihre Fragen zum Beispiel nach dem Alter eines Fundstücks beantwortet. Bald darf er sich dort vorstellen. Nils ist einer der Hochbegabten, über die sich die Gesellschaft freut. Er wurde rechtzeitig gefordert, kann sein Potenzial ausschöpfen.
Potenzial, das in Janniks Kopf noch immer vor sich hindämmert. Auch buchstäblich: Er schlafe viel, erzählt er. „Wenn ich schlafe, ist mir nicht langweilig.“ Ab und zu kommt es vor, dass ein für ihn reizvolles Buch erscheint. Harry Potter, Eragon, Artemis Fowl liest er gern. Die Helden dieser Bücher haben eines gemeinsam: Sie alle sind junge Menschen, die zu Außergewöhnlichem fähig sind – und das auf beeindruckende Art und Weise unter Beweis stellen. Ob Jannik das jemals gelingen wird, muss die Zukunft zeigen. Zur Academia Generalis geht er nicht mehr. Doch gelingt es ihm, sein Versprechen einzulösen, wäre das auch ein Gewinn für die Gesellschaft. Die erinnert Grüter-Hommerich an eines: „Es gibt nicht nur einen Jannik.“