Gelsenkirchen. Was denken die Menschen im Stadtnorden von Gelsenkirchen? Ein experimentelles Format der WAZ Gelsenkirchen geht dieser Frage auf den Grund.

Es ist schon ein Experiment. Eines, das der Frage nachgeht, was treibt die Bueraner um? Eines, bei dem die Menschen ganz offen sprechen können – weil Ihnen Anonymität zugesichert ist. Und eines, das sei vorweg genommen, dessen Authentizität darunter keineswegs leidet.

Es ist ein schöner, sonniger Morgen. Auf der Hochstraße ist viel los. Auch in den Cafés. Besonders ein Tisch ist begehrt wie immer: Ein Hochtisch, an dem sich Leute ohne Verabredung treffen, miteinander Kaffee trinken, über Gott und die Welt sprechen und weiter ziehen. Dann kommen die nächsten und steigen mit den Verbliebenen wieder ins Gespräch ein.

Von Leerständen und Unterhosen für Männer

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„Dass es in Buer den Berg runter geht, das ist klar“, sagt eine Dame. „Hennes geht, Woolworth kommt – da bekommt man ein bestimmtes Publikum. Das muss doch nicht sein.“ Überhaupt sei das Angebot zurück gegangen, meint der Herr daneben. „Wo bekommt man denn hier eine Unterhose für einen Mann? In den letzten Jahren haben sich alle Nachbarstädte weiter entwickelt. Nur Buer nicht. Zum Beispiel die Weiser-Häuser: Solange man das abschreiben kann, werden die nicht verkaufen.“

Schon ist man bei der großen Politik: „Da muss die Politik etwas tun“, sagt ein anderer Herr. „Immobilienbesitzern wird es zu leicht gemacht, Leerstände zu verwalten. Scheinbar machen die ja trotzdem Gewinn. Das kann doch nicht sein“, sagt er und nimmt einen Schluck von seinem Aperol.

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Bald entwickelt sich das Gespräch weiter. Jetzt geht es um die Sicherheit. „Es ist doch traurig, dass eine Frau abends nicht mehr ohne Angst die Hochstraße rauf und runter gehen kann. Das traue ich mich ja noch nicht einmal“, erzählt der erste Herr. Der mit dem Aperol hat einen interessanten Einwand. „Der abendliche Spaziergänger sieht ein paar Menschen mit dunklen Haaren, insgesamt dunkle Gestalten, und fürchtet sich. Da tut man denen manchmal auch Unrecht. Mir hat jemand berichtet, das liegt zum Teil auch am freien Internet. An den Ecken, wo guter Empfang ist, da stehen viele von denen dann abends.“

Hochpolitisch, aber nicht parteiisch

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In einem sind sich alle einig: Für die Politiker gäbe es in Buer viel zu tun. Schon wird deutlich, alle sehen in Sachen Einsatz für das Volk gelinde gesagt Potenzial nach oben. Aber fühlen sie sich denn, angesichts der bevorstehenden Wahl, überhaupt durch jemanden vertreten? „Der Politiker denkt zu 99 Prozent erst mal an sich. Für den Rest bleibt nicht viel übrig“, sagt ein weiterer Herr. Er weiß, wovon er redet. 87 Jahre ist er alt, hat die bundesdeutsche Geschichte seit Beginn an miterlebt.

Wenn ich jetzt den Bundestag besuchen würde, dann würde ich kaum Abgeordnete sehen. Wo sind die denn? Haben die Faulfieber? Die schwören im Wahlkampf, dass sie für uns sorgen. Aber wenn dann im Bundestag ihren Eid abgelegt haben, gilt das nicht mehr.“

Auch der Herr mit dem Aperol sieht das so: „Früher waren Stadtverordneter bis Bundestagsmitglied etliche Jahre berufstätig, bevor sie in die Politik gingen. Ein bisschen Lebenserfahrung gehört schon dazu, um die Probleme der Menschen zu kennen. Die wissen doch gar nicht, was Hinz und Kunz für Miete zahlen. Ich bin auch für Gleichberechtigung. Aber heute müssen in einer Familie ja beide Partner arbeiten, um sich überhaupt eine Drei-Zimmer-Wohnung leisten zu können.“

Schon geht es um Chancengerechtigkeit. Und da können die Herren überraschen: „Immer wird gesagt, die Jungen wollen nur Spaß. Das stimmt doch nicht. Die wollen auch von ihrer Arbeit leben können“, sagt der Herr mit dem Aperol. „Ich hatte früher das Gefühl, man konnte sich ein Ziel stecken und hatte die Chance, das auch zu erreichen. Heute ist das viel zu weit weg. Die 70er Jahre werden noch einmal in die Geschichte eingehen als die Zeit, in der es echte Chancengerechtigkeit gab.“ Das entmutige die Jugend. Und das sei verständlich.

Hadern mit Koalitionen

Zurück zur Bundestagswahl: „Da gibt es keinen, den man aus Überzeugung wählen kann.“ Der 87-jährige Herr bringt es auf den Punkt: „Es ist Wahl, aber man hat keine Wahl.“ Überhaupt: „Ich behaupte, es gibt keine wirkliche Demokratie. Nach der Wahl gibt es eine Koalition und das Volk erhält eine Regierung aus Parteien, die es nicht wollte – bekommt sie aber aus machtpolitischen Gründen.“ Der Herr mit dem Aperol ergänzt: „Die Unzufriedenheit ist spürbar. Das liegt nicht mehr nur an Corona. Aber keiner traut sich, das so auszusprechen.“

Das gelte auch für die Sorge um die Renten. „Die Clique der Oberen scheint ja die Meinung zu vertreten, wenn der Mensch nicht mehr arbeiten kann, muss er sterben. Dann haben wir auch kein Problem mit der Rente“, schimpft der 87-jährige Herr. „Ein Beispiel: die Pflege. Wenn solche Leute, die sich um Pflegebedürftige kümmern, sich selbst nicht ernähren können und gleichzeitig die Verteidigungsministerin 30 Milliarden Euro für die Rüstung fordert und kein Mensch nimmt die dafür auseinander, das verstehe ich nicht. Aber vielleicht bin ich dafür nicht korrupt genug.“

Kinder, Küche und Karriere

Bis 67 arbeiten, das könnten viele gar nicht, meinen die Herren. „Und wir haben ja noch ein Problem: Uns fehlt der Nachwuchs – insgesamt. Wenn ein Volk pro Paar ein Kind bekommt, ist es ein sterbendes Volk“, spricht wieder der älteste in der Runde. „In einer Familie ist die Frau Finanzministerin, Familienministerin, Mutter und Hausfrau – das ist doch schon mehr als ein Vollzeitjob.“ Nur werde der nicht richtig ausgeübt. Fast-Food sei bei vielen an der Tagesordnung: „Täglich ein frisches Mittagessen, eine gesunde Ernährung mit Obst und Gemüse – Fehlanzeige.“

Jetzt mischt sich wieder sein Sitznachbar, der mit dem Aperol, ein: „Aber die Zeit ist doch weiter gegangen. Wir können doch nicht sagen, die Frau muss zu Hause bleiben, damit es mehr Kinder gibt und mehr Gemüse auf dem Tisch.“ Vielmehr gehe es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Man erinnere sich mal an die DDR. Da gab es Kinderhorte, die die Kinder nachmittags betreuten. Die wurden nach der Wiedervereinigung verteufelt. Da ging Ideologie vor Praxis.“

Erstaunlich, aber wahr: Erst jetzt wird über Corona gesprochen. Natürlich sind alle am Tisch geimpft. „Da sieht man doch, wie die Gesellschaft auseinander driftet“, spricht wieder der Herr mit dem Aperol. „Jetzt ist genug Impfstoff da und wer meint, er muss sich nicht impfen lassen, der muss Nachteile in Kauf nehmen. Deswegen bin ich für 2-G.“ Für Querdenker hat hier keiner Verständnis. Die neue Dame in der Runde, die den Platz der ersten eingenommen hat, berichtet von Erfahrungen aus dem eigenen Umfeld. „Am Reitstall. Da sind einige gegen das Impfen. Ja, wo leben wir denn? Wenn ich mein Umfeld schützen will, dann scheiß doch auf den Pieks. Ich bin auch von der Politik enttäuscht. Da hätte es mehr Initiativen geben müssen, eine bessere Planung. Das Verhalten der Regierung erinnert mich immer an einen Ehemann, dem am 24. Dezember einfällt, dass er noch ein Weihnachtsgeschenk braucht.“

Die neue Freiheit

Überhaupt, meint der Herr mit dem Aperol, Corona habe die Gesellschaft geprägt und gewandelt. „Zum Beispiel der Begriff Freiheit hat sich völlig verändert. Früher verstand man darunter, dass man zum Beispiel so wie wir beisammen sitzen kann und alles aussprechen können. Aber der Begriff ist pervertiert worden: Heute ist Freiheit, wenn man ohne Maske in der Gastronomie zur Toilette gehen darf.“

+++ Zum Hintergrund +++

Es ist journalistischer Alltag, dass man den Stimmungen in der Gesellschaft nachspürt, Menschen zu Wort kommen lassen möchte. Doch immer geringer ist die Bereitschaft der Masse, ihre Meinung offen zu formulieren, zu groß ist vielleicht auch die Sorge, gleich eine Debatte auszulösen.

Dieses Experiment, inspiriert durch eine Reportage in der Wochenzeitung Zeit, ist ein Versuch, ein paar Stimmen einzufangen – ehrlich, offen, aber eben anonym. Über einige Stunden wurde das Geschehen an diesem besonderen Tisch als „Zaungast“ begleitet.

Natürlich waren alle in der Runde stets darüber informiert, zu welchem Zweck die Aufzeichnungen gemacht wurden. Zensiert wurde hier an keiner Stelle, selektiert schon – aus Platzgründen. Gesprochen wurde ebenso über die Afghanistan-Politik, die Auswirkungen der Globalisierung und chinesische Politik, das neue Buch von Philosoph Richard David Precht und die neue Platte von ABBA.