Gevelsberg. Ellen Rinsche wurde von ihrem Mann jahrelang misshandelt und gequält. Sie erschlug ihn mit einem Bügeleisen. Notwehr? Der Fall und das Urteil.
Warnung: Dieser Text enthält explizite Darstellungen von Gewalt sowie sexueller Gewalt.
Als das schwere Bügeleisen mit dem Holzgriff und der eisernen Platte wuchtig auf den Schädel kracht, ist der Junge noch wach. Einmal. Zweimal. Dann sackt der Vater zusammen. „Ich mach’ dich kaputt!“, hatte Josef Rinsche selbst Sekunden zuvor noch geschrien, als er seine Frau Ellen mit einer Hand würgte und ihr mit der anderen den Kopf nach hinten riss. Dann wehrte sie sich. Das erste Mal. Der Junge ist womöglich der einzige Zeuge und konnte genau so wenig ahnen wie seine Mutter, dass diese in der Nacht zum 3. September 1949 in Gevelsberg deutsche Rechtsgeschichte schreiben würde.
Es war ein Testfall für die junge Bundesrepublik, deren Grundgesetz erst wenige Monate zuvor in Kraft getreten war. Ein Test, den die Gerichtsbarkeit und die noch von dem Einfluss der Nationalsozialisten geprägte Gesellschaft nicht bestanden. Eine Tat, für die Ellen Rinsche heute wohl nicht verurteilt werden würde. Eine Situation, die mit großer Wahrscheinlichkeit einige Jahrzehnte später gar nicht mehr entstanden wäre. Und: Der erste Fall in der deutschen Strafrechtsgeschichte, der dank eines mutigen Anwalts vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe in Revision ging – und abgeschmettert wurde.
„Ein Früchtchen“ gibt Vater Josef zu Protokoll
Aber der Reihe nach. Ellen Rinsche, geboren 1911 in Wuppertal, ist eine Frau aus gutem Hause. Sie lebt dank des Wohlstands privilegiert in einer Zeit, die vom Ersten Weltkrieg, dem Niedergang des Kaiserreichs und den Wirrungen der Weimarer Republik geprägt ist.
Die gesellschaftlichen Konventionen sind andere als heute. Die Rollen von Mann und Frau, die von arm und reich sind klar verteilt. Vater Josef Fischer ist ein Sinnbild seiner Zeit: erzkatholisch, patriarchisch, in erster Linie auf seinen eigenen Ruf und den der Familie bedacht. Die Mutter hat die Rolle der Gattin aus wohlhabenden Kreisen bis ins Mark verinnerlicht. Ellen ist ein quirliges Kind, schwer zu halten, lebt in den Tag hinein, mag es später, Männer mit ihrer Frivolität nervös zu machen. „Ein Früchtchen“, gibt Vater Josef bei der Polizei zu Protokoll.
Als sie im Jahr 1936 ihren Eltern Josef Rinsche vorstellt, sind die wenig begeistert. Ein junger Mann aus einfachsten, ja ärmlichen Verhältnissen, ungebildet. Doch die beiden lassen sich nicht beirren, beginnen eine Beziehung. Dann wird Ellen Rinsche – damals noch Fischer – schwanger. Ein Fauxpas, ein Desaster, etwas, über das die Leute reden werden und dann auch noch in einer Zeit, in der die Fischers den Mann in ihrem Hause wohnen ließen. Eine Heirat ist unausweichlich. Später erleidet Ellen Rinsche eine Totgeburt, die einfache Gründe hat: Josef Rinsche schlägt seine Frau, drangsaliert sie, erzwingt die „ehelichen Pflichten“ mit roher Gewalt. Mittlerweile regiert die Unmenschlichkeit nicht nur in der Ehe der Rinsches, sondern in ganz Europa. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen.
„Was Gott zusammenfügt, darf der Mensch nicht scheiden“
Ellen Rinsche erduldet das Martyrium, bis sie sich ihrem Vater anvertraut. Für den kam eine Trennung nicht in Frage. „Was Gott zusammenfügt, darf der Mensch nicht scheiden“, soll er zu ihr gesagt haben, dann sei die Diskussion beendet gewesen. So gibt es Ellen Rinsche später zu Protokoll. Josef Rinsche wird 1942 von der Wehrmacht eingezogen, als er zurückkommt, ist er brutaler, jähzorniger, cholerischer als jemals zuvor. Er prügelt seine Frau blutig, schlägt ihr Zähne aus, vergewaltigt sie.
Er hat mehrere Affären, bringt einen Tripper mit ins Ehebett. Ellen Rinsche wird erneut schwanger, gebärt einen Jungen. Ihr Ehemann versäuft derweil den kargen Lohn – und wenn er aus der Kneipe nach Hause kommt, ist er kaum noch zu bändigen. Tag ein, Tag aus. Über Jahre. Wie auch in jener schicksalhaften Nacht zum 3. September 1949. Als Josef Rinsche nach Hause kommt, fällt er wieder einmal über seine Frau her, schlägt sie, tritt sie, schleift sie an den Haaren durch die Wohnung, sie befreit sich, schließt sich im Schlafzimmer ein. „Papa, lass die Mutti los. Mach Mama nicht tot“, ruft der Junge. Josef Rinsche tobt vor der Schlafzimmertür, hinter der sich seine Frau eingeschlossen hat.
Mit einem Beil und einem Brotmesser trennt sie Kopf und Gliedmaßen ab
Als sie ihm doch öffnet, packt er sie am Hals, reißt an ihren Haaren. Plötzlich hat sie das Bügeleisen in der Hand. All das bleibt in dem späteren Prozess ohne entscheidende Bedeutung. Was die junge Republik in Aufruhr versetzt, ist das, was dann passiert. Ellen Rinsche will die Leiche fortschaffen, doch den 90 Kilo schweren Körper kann sie kaum bewegen. Mit einem Beil und einem Brotmesser trennt sie Kopf und Gliedmaßen im Schlafzimmer ab. In Decken gewickelt legt sie die Leichenteile in einen Kinderwagen. Zweimal macht sie sich damit nachts zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof, fährt mit dem Zug einmal nach Wuppertal und einmal nach Düsseldorf.
Während seine Mutter den Torso in eine Bombenruine legt, den Kopf in die Wupper und die Extremitäten in den Rhein wirft, schläft der Junge – mit Tabletten von Ellen Rinsche ruhig gestellt. Notdürftig säubert sie die Wohnung, verwischt die Spuren oberflächlich oder gar nicht. Ellen Rinsche – damals 38 Jahre alt – meldet ihren Mann eine Woche nach dessen Tod als vermisst. Die Polizei hat sie vor eine leichte Aufgabe gestellt. Vor der prächtigen Villa Dörken in der Gevelsberger Innenstadt, in der die Rinsches eine Wohnung bezogen hatten, versammeln sich die Menschen, als die Polizei das Haus in Beschlag nimmt. Ein guter Tag für Fisch-Emmi, die die Rinsches ohnehin nicht leiden konnte und nun neben ihrem Bratfisch auch die neuesten Gerüchte über den Tod des Josef Rinsche unter die Leute bringt.
Der Fall Ellen Rinsche wird zum Roman „Kalte Wut“ verarbeitet
Mittendrin in der Meute ist Volker Mauersberger, zehn Jahre alt, Schüler des Gevelsberger Gymnasiums. Später wird er den Fall Ellen Rinsche zu dem Roman „Kalte Wut“ verarbeiten. Schon damals nahm er wahr, „wie sich eine Pogromstimmung unter den Menschen breit machte“, so erzählt er rückblickend. Der Fall wird zur Sensation im Nachkriegsdeutschland. Gebannt verfolgt das Land den Prozess vor dem Hagener Schwurgericht. Die Öffentlichkeit hat ihr Urteil längst gefällt, bevor die Richter dies tun: Ellen Rinsche hat eiskalt und skrupellos ihren Mann ermordet.
Die zierliche Blondine selbst schweigt und leugnet. Aus Angst. „Sie hatte nicht mitbekommen, dass durch das Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft worden war“, sagt Volker Mauersberger. Und mehr noch. Sie hatte von Richard Schuh gehört, einem Raubmörder aus Tübingen, der für seine Tat am 18. Februar 1948 auf das Schafott musste. Ellen Rinsche war davon überzeugt, dass ihr ebenfalls die Todesstrafe drohe. Dann stellte sie der Wärterin in dem Wuppertaler Gefängnis eine Frage: „Wie werden sie es machen – Schafott oder Pistole?“ Volker Mauersberger: „Erst als ihr die Wärterin erzählte, dass die Todesstrafe abgeschafft ist, brach sie zusammen und gestand.“
„Sie war ein Opfer ihrer Zeit“
Doch die deutsche Justiz war noch nicht dazu bereit, über Notwehr nachzudenken, in Betracht zu ziehen, dass die Täterin auch Opfer sein könne. Noch vom zentralen Rachegedanken der Nazis geprägt, sagte der Vater gegen die Tochter aus, fällte das Gericht sein Urteil: zwölf Jahre Zuchthaus. Im Jahr 1954 vermeldet die Deutsche Presseagentur, dass eine bei Fulda inhaftierte Frau zu Tode gekommen ist. Ellen Rinsche hat sich das Leben genommen. „Darauf deutet zumindest alles hin. Meine Recherchen haben ergeben, dass sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit erhängt hat“, sagt Volker Mauersberger, der mit diesem Moment, in dem Ellen Rinsche sich – den Kopf in der Schlinge – vom Schemel abstößt, sein Buch enden lässt.
Heute, das bestätigen zahlreiche Rechtsgelehrte, wäre Ellen Rinsche wohl freigesprochen worden, weil sie eindeutig in Notwehr gehandelt hat. Heute, das lässt sich jedoch nur vermuten, wäre es wohl niemals zu dieser Tat gekommen, weil die junge Frau sich vergleichsweise leicht hätte von ihrem Tyrannen trennen können. „Sie war ein Opfer ihrer Zeit“, sagt Mauersberger.