Dortmund. Seit 25 Jahren ist der Schwerverbrecher Norman Franz auf der Flucht. Er floh mit Hilfe von Engelshaar aus der Hagener JVA. So ging der Trick.

Es war der Tag, an dem die Geschichte der Flucht von Norman Volker Franz aus der JVA Hagen völlig neu geschrieben werden musste. Es war der Tag, als in einem Strafprozess vor dem Landgericht Dortmund die ganze Wahrheit ans Licht kam. Bitte ganz schnell vergessen: Das Märchen vom stumpfen Butter-Streichmesser, mit dem sich Gitterstäbe an Zellenfenstern durchsägen lassen – das am Tag des spektakulären Ausbruchs der damalige Anstaltsleiter Michael Skirl präsentierte. Vor genau 21 Jahren saß ich, als Berichterstatter für diese Zeitung, als einziger Zuschauer in einem Dortmunder Gerichtssaal.

Über ein Regenfallrrohr an der Hagener JVA klettert Norman Franz bei seiner Flucht nach unten und flieht Richtung Innenstadt.
Über ein Regenfallrrohr an der Hagener JVA klettert Norman Franz bei seiner Flucht nach unten und flieht Richtung Innenstadt. © Kleinrensing | Michael Kleinrensing

Eine Berufungskammer verhandelte gegen einen der drei Fluchthelfer von Norman Franz. Es war der Prozess, der im Nachhinein das ganze Ausmaß an groben Pannen und unverzeihlichen Nachlässigkeiten der Hagener Vollzugsbeamten rücksichtslos aufdecken sollte.

Jugendfreund beschafft Engelshaar

Auf der Anklagebank ein Installateur-Meister vom Borsigplatz, der das wichtigste Ausbruchswerkzeug für den Schwerverbrecher besorgt hatte: hauchdünn wie Zwirn, schärfer als ein Sägeblatt, genannt „Engelshaar“. Beide kannte sich aus gemeinsamen Jugendjahren im Dortmunder Norden. Zur Clique gehörte auch die Freundin von Norman Franz, die ihn als 16-Jährige kennengelernt hatte und die später noch zu seiner Ehefrau und Fluchthelferin werden sollte. Im März 1996 wird Franz vom Schwurgericht Dortmund wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Sie sitzt als Zuschauerin im Gerichtssaal. Sie hört aufmerksam zu, dass ihr angeklagter Verlobter in Syburg einen Mann mit einer Handgranate in die Luft gesprengt, einen anderen Mann mehrfach in den Kopf geschossen hat. Davon unberührt gibt sie dem Doppelmörder zwei Monate später im Gefängnis Wuppertal das Ja-Wort.

Sie soll „Engelshaar“ besorgen

Das eigentliche Flucht-Drama beginnt, als Norman Franz am 7. Februar 1997 in die JVA Hagen verlegt wird. Die frisch vermählte Ehefrau besucht ihn dort regelmäßig. Bei ihren Gesprächskontakten zu zweit, die eigentlich überwacht sein sollten, schauen die Vollzugsbeamten fahrlässig zur Seite. Deshalb bekommen sie nicht mit, dass der Doppelmörder seiner Gattin mehrfach Zettel zusteckt: genaue Anweisungen zur Fluchtvorbereitung. Auf einem dieser kleinen Zettel steht, sie sollte „Engelshaar“ besorgen - beim gemeinsamen Jugendfreund, dem Installateur-Meister vom Borsigplatz. Er hat das Zeug tatsächlich beschafft: „Engelshaar“, ein feinfaseriges Glaswolle-Produkt. Bau-Handwerker setzten es früher als Dämm-Material ein, Klempner umwickelten damit Rohre zur Isolierung, man konnte damit auch Gefängnisgitterstäbe durchsägen. Heutzutage gilt es als krebserregend.

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Nachlässige Einlasskontrollen

Norman Franz und sein Ausbruchsweg über das Dach der Hagener JVA.
Norman Franz und sein Ausbruchsweg über das Dach der Hagener JVA. © Unbekannt | Sascha Kertzscher

Im Fluchthelfer-Verfahren muss auch seine Freundin, die da schon einen anderen Namen trägt, auf den Zeugenstuhl: „Bildhübsch, knappes T-Shirt, knallenge Jeans. Hochhackige Lederstiefel, die bis über das Knie gehen“, notierte ich. „Geschieden“, gibt sie an und berichtet, wie es ihr schließlich gelang, dass „Engelshaar“ unbemerkt in die JVA zu schmuggeln.

Auch hierin sei sie den Anweisungen ihres inhaftierten Ex-Mannes auf den Zetteln gefolgt: Bei jedem Besuch sollte sie immer dieselbe modische Halskette mit dem großen Metallmedaillon sowie den Gürtel mit der runden Metallschnalle tragen. Diese schlugen bei der Einlasskontrolle am Metalldetektor regelmäßig Alarm – und mussten dann immer abgenommen werden. Irgendwann wurde das den Kontrollbeamten zu lästig. Genervt winkten sie Freundin nur noch durch. Eingeschliffene Routine begünstigte diese Nachlässigkeit.

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Für den Inhaftierten der richtige Zeitpunkt, seiner Frau noch diesen Anweisungszettel zu geben: „Kleb’ das Engelshaar mit Tesa von innen an den Kettenanhänger und in die Gürtelschnalle. Dann steck’ es mir zu.“ Der letzte JVA-Besuch vor dem Ausbruch: „Warte morgen früh auf mich“, hätte Norman ihr zum Abschied zugeflüstert, „entweder ich komme, oder ich bin tot.“

Mutter reicht ihm eine scharfe Waffe

In der Nacht auf den 11. März 1997 schmirgelt der Schwerverbrecher „drei bis vier Stunden lang“, so sein damaliger Mitgenosse auf Zelle 317, einen einzigen Gitterstab mit dem „Engelshaar“ durch. Die Aktion bleibt genauso unbemerkt wie der Ausstieg aus der dritten Etage, was verwundert: Gegenüber im Hof befindet sich Nachtstand 6, ein Wachtturm, von dem die JVA-Wärter eigentlich den Gefängnisinnenhof von Abteilung 6 überblicken sollen. Niemand bekommt dort mit, wie der spätere Fünffach-Mörder seine selbstgebastelte Strickleiter hochwirft: zusammengeknotete Bettlaken, verlängert mit Besenstielen und einem Eimerhenkel, der als Wurfhaken in der Dachrinne hängenbleibt. Er klettert hoch, über das Spitzdach auf die gegenüberliegende Außenseite, hangelt sich dort an einem Regenwasserrohr herunter. Und läuft dann über den Behördenmitarbeiter-Parkplatz zur Heinitzsstraße. Dort wartet um 5.45 Uhr morgens bereits ein roter Polo mit laufendem Motor. Am Steuer seine Ehefrau, sie hat gefälschte Papiere auf die Namen Nadine und Michael Stuever dabei. Auf der Rückbank sitzt seine Mutter und übergibt ihrem Sohn eine scharfe Pistole. Die Waffe, mit der später in Ostdeutschland noch drei Menschen erschossen werden.