Essen. Wenn’s kein Foto davon gibt, ist es nicht passiert: So scheint sich das Leben vieler Menschen anzufühlen – anders ist die Selfie-Manie kaum zu erklären. Der mächtigste Mann der Welt tut’s genauso wie der Teenie von nebenan: Wo verläuft bei Selfies die Grenze zwischen Spaß und Narzissmus?

Sie tun's auf Reisen und zu Hause vor dem Badezimmer-Spiegel. Sie tun's mit einem Lächeln oder Schmollmund, allein oder in Gesellschaft, vor dem Essen und nach dem Sex: Selfies, die mit dem Smartphone geschossenen Selbstporträts, überschwemmen die Online-Netzwerke. Es scheint keine Situation mehr zu geben, in der Menschen sich nicht selbst fotografieren und das dann der Welt zeigen, oder zumindest ihrer Welt: Ich bin auf meinem Foto, also bin ich.

Neu ist das Phänomen nicht. Schon im 19. Jahrhundert haben Fotografen via Spiegel Bilder von sich gemacht. Früher sind Papas nach dem Drücken des Selbstauslösers der Kamera zur posierenden Familie gehechtet, um's noch mit aufs Foto zu schaffen.

Urlaubs-Beweisbilder hat vermutlich jeder ("Ich war in New York, ich war in Rom, ich war vorm Brandenburger Tor"). Und wenn wir ganz ehrlich sind, unterscheiden sich die Jahrhunderte alten Selbstporträts großer Meister wie Dürer, Rembrandt und van Gogh in ihrer Absicht auch nicht groß von Selfies. Sie sagen: Seht her - hier bin ich, das hab' ich, das kann ich.

Selfies für Anfänger: Hals strecken, Kinn vorschieben

Der Aufwand für ein Rembrandt- oder ein van-Gogh-Selfie war selbstverständlich ungleich größer. Obwohl: Wer eins der typischen Handy-Selfies machen will, kann auch nicht einfach abdrücken. Ratgeber mahnen, erstmal das Licht einzustellen, einen guten Hintergrund zu suchen, verschiedene Posen auszuprobieren - unter anderem die ganz natürliche -, die Schokoladenseite zu finden, darauf zu achten, dass der ausgestreckte Arm nicht im Bild, dafür der Hals gestreckt und das Kinn vorgeschoben ist - alles im Kampf gegen das Doppelkinn und für das bestmögliche Bild.

Gruppenselfie vor Stadt-Panorama. (Foto: dpa)
Gruppenselfie vor Stadt-Panorama. (Foto: dpa) © dpa | Unbekannt

All das, sagt Soziologin Bernadette Kneidinger, ist gar nicht mal die pure Eitelkeit und Oberflächlichkeit: "Kein Mensch will schlechte Seiten von sich zeigen, das ist ganz normal", meint die Wissenschaftlerin, die an der Universität Bamberg eine Juniorprofessur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Internet innehat. Vielmehr gehe es um nichts weniger als die "Konstruktion der Identität": "Wie man sich visuell darstellt ist ein wichtiger Punkt für die Identität. Das fängt ja schon damit an, wie man sich kleidet."

Kleidung spielt für Reality-TV-Berühmtheit Kim Kardashian eine große Rolle, vor allem auch auf den Selfies, die sie auf allen möglichen Social-Media-Kanälen ständig postet, nur kurz unterbrochen von den Fotos, die Profis von ihr gemacht haben, mit mehr oder weniger Kleidung.

Egal, wie viel sie anhat, die US-Amerikanerin ist die Königin des "Duck-Face": Es gibt praktisch kein Bild, auf dem Kardashian die Lippen nicht leicht zum Entenschnabel Schmollmund geschürzt hat. Das betont die Wangenknochen und soll sexy aussehen, wirkt aber gern auch mal dümmlich.

Sind alle Selfie-Macher ein bisschen selbstverliebt?

Die Flut der Selfies - die vor allem durch die Popularität von Online-Netzwerken und die Entwicklung von Front-Kameras in Smartphones angeschwollen ist - wirkt nicht selten reichlich selbstverliebt. "Man darf nicht alles als narzisstisch verurteilen", warnt die Soziologin: "Es ist etwas ganz Menschliches, dass man sich selbst dargestellt sehen möchte." Dass man sein Leben dokumentiere, sich in der Runde von Freunden fotografiere, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu zementieren.

Und wenn man sich mit einem Idol fotografiert, ist das ein besserer Beweis, dass man ihm ganz nah war, als wenn man nur davon erzählen kann: "Bilder vermitteln - viel mehr als Worte - eine gewisse Authentizität. Sie sind ein stabiler Teil der virtuellen Konstruktion von Identität in Netzwerken."

Jeder macht Selfies, so scheint es. US-Präsident Obama und andere Regierungschefs taten’s bei der Trauerfeier für Südafrikas Nationalheld Nelson Mandela – Pietät hätte man sich anders vorgestellt. Obamas Töchter Sasha und Malia taten’s bei Papas Vereidigung nach seiner Wiederwahl. Pop-Sternchen Justin Bieber tut’s in quasi jeder Lebenslage. Papst Franziskus und Bundeskanzlerin Angela Merkel posieren immerhin bereitwillig mit Fans für deren Selfies.

Das wäre also das Promi-Selfie. Weitere Untergruppen sind offenbar: das "Guck mal, ich hab' was Neues zum Anziehen"-Selfie, das "Guck mal, wie viel Spaß ich habe"-Selfie, mit der Variante "Guck mal, wie betrunken ich bin". Dazu kommen: "Guck mal, ich bin an einem interessanten Ort"-Selfies, "Guck mal, wie ich drauf bin"-Selfies zur Stimmungslage und das allgemeine "So gut/so cool sehe ich gerade aus"-Selfie.

Und dann ist da noch der neue Selfie-Trend, der auf Instagram mit dem Hashtag #AfterSex markiert wird: Da sind viele Bilder voll pubertärem Witz dabei, aber durchaus auch Fotos von Paaren, die mit Schlafzimmer-Blick aus zerwühlten Laken in die Smartphone-Kamera gucken.

Selbst im All werden Selfies geschossen: Der Austronaut Mike Hopkins konnte beim Weltraum-Ausflug dem Planeten Erde als Hintergrund nicht widerstehen, und sein Kollege Steven Swanson postete das erste aus dem All im Foto-Netzwerk Instagram hochgeladene Bild - ein Selfie, na klar. Mit ihrem Superstar-gespickten, bei der Oscar-Verleihung geschossenen Selfie machte TV-Moderatorin und Comedienne Ellen Degeneres digitale Geschichte: Keine andere Twitter-Nachricht ist so viele Millionen Mal geteilt worden wie dieses Bild, auf das sich Hollywood-Stars wie Angelina Jolie und Brad Pitt, Julia Roberts, Meryl Streep, Jennifer Lawrence und Kevin Spacey quetschten.

Warum Selfies Milliarden wert sein können

"Wenn Bradleys Arm nur länger wäre", textete Degeneres - dann hätten noch mehr Berühmtheiten aufs Bild gepasst. Da war wohl jemand nicht vorbereitet, selbstverständlich gibt es längst Hilfsmittel fürs Selfie-Schießen - wie die Armverlängerung "iStabilizer" etwa, mit der man das Handy nochmal einen Meter weiter weg halten kann. Oder den Selbstauslöser "Shutterball", mit dem man die Handy-Kamera auch noch auslösen könnte, wenn man sie mit der Halterung "Selfie-Spider" an den nächsten Gartenzaun geklemmt hätte.

Wenn all das nicht ausreicht für ein schmeichelhaftes Bild, gibt's natürlich noch jedem Menge Selbstverbesserungs-Apps: "PicBeauty", "Facetune" oder "Pixtr" lassen Hautunreinheiten, Falten und rote Augen auf dem Bild verschwinden, und wer vor nichts zurückschreckt, kann mit "SkinneePix" bis zu 15 Pfund wegschummeln.

Das sei, behaupten die Entwicklerinnen, nur gerecht, schließlich sehe man auf Fotos dicker aus als in Wirklichkeit. Und geben sich in der App-Beschreibung verschwörerisch:  "Mit SkinneePix siehst du gut aus und fühlst dich gut. Niemand muss es wissen. Es ist nicht kompliziert. Es ist unser kleines Geheimnis."

Ein Selfie mit dem Präsidenten ärgert das Weiße Haus

Das Geschäft mit den Selfies beschränkt sich nicht auf Handy-Foto-Ausrüstung und Apps. Das berühmte Oscar-Selfie war für den Konzern Samsung bis zu einer Milliarde Dollar wert, schätzen Experten - weil das Smartphone in der weltweiten TV-Übertragung des Filmpreises so prominent platziert war und die Selfie-Einlage wegen der vielen Retweets auf Twitter noch weit mehr Menschen und Sichtbarkeit erreicht hat.

Was einmal klappt, klappt sicher auch zweimal, werden sich die PR-Experten beim Konzern gedacht haben: Als Anfang April Baseball-Star David Ortiz im Weißen Haus zu Gast war, posierte US-Präsident Obama selbstverständlich auch wieder für ein Selfie mit dem Sportler, der einen Sponsoren-Vertrag mit Samsung hat. Die Marketing-Abteilung promotete die Twitter-Nachricht mit dem Foto und damit die Telefone des koreanischen Herstellers. Im Weißen Haus reagierte man verschnupft darauf, dass ein Bild des Präsidenten für Werbung benutzt worden war. Ortiz wies den Verdacht, das Selfie sei geplant gewesen, allerdings weit von sich.

Selbst mutmaßliche Terroristen schießen Selfies

Der mutmaßliche Terrorist Dschochar Zarnajew konnte auch nicht widerstehen: Als er noch als unauffälliger Student galt, schoss er ein Selfie und postete es auf Twitter. Das Bild machte das Musik-Magazin "Rolling Stone" nach dem Bomben-Attentat auf den Marathon in Boston zum Titelbild - und löste einen Sturm der Entrüstung aus, weil der junge Mann, der für Tod und Terror verantwortlich sein soll, auf dem Foto so nett verwuschelt und völlig harmlos aussah.

Das ist einer der wichtigsten Gründe fürs selbstgeschaffene Porträt: Wer ein Selfie macht und verbreitet, hat -  zumindest gefühlt - die Kontrolle darüber, wie er oder sie gesehen wird. "Die Forschung hat gezeigt, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich posieren", sagt Soziologin Bernadette Kneidinger. Mädchen wollten süß oder sexy aussehen: "Sie schauen in die Kamera, meistens nach oben, das macht sie kleiner, niedlicher. Und sie lächeln." Das täten Jungen sehr viel seltener, sagt Kneidinger: "Sie schauen nicht direkt in die Kamera, wollen cool wirken und fotografieren sich oft von unten - damit sie größer, stärker, dominanter aussehen." Das gilt, wenn man's genau betrachtet, als Regel auch für ältere Selfie-Macher.

Das älteste Selfie entstand vor 175 Jahren

Der Amerikaner Robert Cornelius war vermutlich der erste, damals, 1839. Sein Selfie war eines der ersten Fotos eines Menschen überhaupt, gemacht mit Hilfe eines Spiegels. Die Methode ist immer noch beliebt, und das Badezimmer-Selfie erinnert durchaus an Narziss, den Schönling aus der griechischen Mythologie, der sich beim Erblicken seines Spiegelbildes in einem Weiher in sich selbst verliebte.

Unzählige Spiegel-Selfies tauchen auf der Website "Selfeed" auf: Die haben drei Künstler programmiert, in Echtzeit sieht man jedes Foto, das mit dem Hashtag #Selfie auf Instagram hochgeladen wird - ein wahrer Gesichter-Strom.

175 Jahre nach Cornelius' Selfie beschäftigen sich Psychologen, Soziologen, Medienforscher und Kunsthistoriker mit dem Thema, gerade hatte das renommierte Los Angeles County Museum of Art zu einem "Selfie"-Symposium geladen - zwischen fotografischen Selbstporträts aus dem 19. Jahrhundert und  den Selfies, die Museums-Besucher vor den Kunstwerken machen.

Menschen bis 25 Jahre machen sehr viel mehr Selfies als ältere, sagt Kneidinger. Sie seien nun mal aktiver in den Online-Netzwerken: "Wenn sie keine Bilder posten, werden sie in sozialen Netzwerken nicht wahrgenommen. Wir leben in einer stark visualisierten Kultur. Bilder haben eine starke Aussagekraft." Selbstverständlich nicht nur bei Facebook, Instagram oder Twitter, auch via WhatsApp, Snapchat und mit anderen Messaging-Diensten werden Millionen Selfies verschickt.

Warum Selfies auch gefährlich sein können

Was bedeutet es für unsere Selbstwahrnehmung, wenn wir ständig die Selbstdarstellungen der anderen vor Augen haben? "Das ist ein interessantes Thema", sagt Soziologin Kneidinger: "Eine Studie hat ergeben, dass diese Bilder Neidgefühle auslösen können, ein Unwohlsein, weil das Gefühl entsteht: Allen anderen geht es besser als mir, sie erleben mehr."

Dazu kommen die Selfies, die wirklich gefährlich werden. Eine Variante seien die Bilder, die (häufig junge) Menschen von sich machen, während sie Auto fahren. Oder die "Gleis-Selfies", bei denen Freundinnen sich an den Händen halten und auf Bahn-Gleisen fotografieren: "Sie wollen damit zeigen, dass sie für immer zusammen bleiben", erkärt Kneidinger. Ein weiteres Problem seien die Selfies von Mädchen und jungen Frauen mit Essstörungen, die sich gegenseitig zeigen, wie dünn sie sind und einander zu weiterem Abnehmen anspornen.

Einer der gesündesten Trends ist vielleicht der, bei dem Frauen im Selfie-Diptychon gleich neben dem Super-Selbstporträt bescheuerte Gesichter machen. Und einer der lustigsten Trends ist wohl der, bei dem Menschen mit ihren Haustieren posieren - die „Hundebart“-Selfies, mit dem Kopf des Tiers als Bart, oder die Katzenmasken-Selfies, auf denen sich Menschen ihre Katzen auf den Kopf legen, um wie Batman auszusehen.