Hannover. Ist Twitter ein Spaß, ein großartiges Tool, Zeitverschwendung oder einfach nur Blödsinn? Irgendwie alles, findet Technology-Review-Blogger Niels Boeing.
Vor zwei Wochen schickte mir ein Freund auf die Mitteilung eines Microblogs auf Twitter folgende erstaunliche Zeilen: „Mach bitte kein Twitter... das ist eine komplette Verarschung von Marketerfutzis ... Schreib doch einen Bericht, was das eigentlich für ein Blödsinn ist.“ Ist Twitter Blödsinn? Die Frage könnte man einfach mit ja oder nein beantworten. Aber so leicht ist es dann doch nicht.
Kurze Vorgeschichte: Ich war bis vor kurzem einer von diesen Twitter-Schläfern, die das anfangs mal gecheckt und dann weder Zeit noch Lust hatten, noch ein Zeitvernichtungstool zu nutzen – bis vor einigen Monaten ein anderer Freund in Twitter-Euphorie ausbrach. OK, dachte ich, zweiter Anlauf. Als kollaboratives Microblogging ergibt das Ganze vielleicht einen Sinn (unser Microblog bezieht sich nur auf ein lokales Projekt).
Nun verfolge ich seit Anfang Januar mehrmals täglich, was andere Menschen, denen ich folge, von sich geben. Erste Diagnose: Oha, es ist so schlimm wie befürchtet. Die Twitter-Gründer hätten ihre Eingangsfrage, nachdem sie von einem internen Kommunikationstool auf öffentlichen Betrieb umstellten, von „What are you doing?“ zu „What do you want to share?“ ändern sollen. Ich habe zwar an verschiedenen Stellen gelesen, es gehöre inzwischen zur Twitter-Etiquette, gerade nicht das zu schreiben, was man aktuell TUT. Nur hält sich keiner dran.
David Pogue hat in seiner New-York-Times-Kolumne kürzlich immerhin eine tolle Anwendungsmöglichkeit beschrieben, nämlich per Twitter die berüchtigte „Weisheit der Vielen“ anzuzapfen, quasi eine Hotline zum Volk. Aber Pogue kann auf Tausende von Followern zurückgreifen (aktuell mehr als 7.500, doppelt so viele wie für die Eilmeldungen von Spiegel online), wer kann das schon?
Wenn es sich bei Twitter wenigstens um einen Aphorismen-Generator handeln würde, wäre es sehr lustig. Dieses Niveau erreicht aber so gut wie kein Posting. Vielleicht sollte mal einer unter dem Namen „karlkraus“ die gesammelten Aphorismen des großen Satirikers raushauen, die reichen für Monate.
Auch als Soziales Netzwerk funktioniert es nur mäßig, wie Bernardo Huberman in der letzten Ausgabe von First Monday geschrieben hat. Seine statistische Analyse zeigt, dass nur ein kleiner Teil der Follower wirkliche Friends sind, mit denen ein regelmäßiger Austausch stattfindet. Der größere Teil sind Karteileichen, wie in anderen Social Networks übrigens auch. Aber Hauptsache die Illusion ist da, man könnte sich mit Hunderten, ach seien wir nicht kleinlich, Tausenden „connecten“.
So ist Twitter erst mal ein gigantisches Verweissystem, das vor allem tinyURL sagenhafte Klickraten (und wohl auch Banner-Umsätze) beschert, denn in 140 Zeichen passt selten ein Link. Es ist zwar innovativ, dass die getrennten Kommunikationskanäle Web, SMS, IM mittels Twitter zusammengeführt werden können (Medienbrüche galten ja immer schon als Pest). Nur schrumpft dadurch keiner von diesen. Twitter sitzt oben drauf und addiert sich zu all den Verweisen aus RSS-Feeds, Email-Newslettern, Link-Verschickungen, Social Bookmarks und weiterführenden Hölzchen-auf-Stöckchen-Links, die jeder gerne lesen würde, wenn er mal Zeit hätte, die er aber nie hat.
Twitter ist also im Begriff, die Uneigentlichkeit des Internet in den nächsten zwölf Monaten dramatisch zu erhöhen. Das könnte dann so weit gehen, dass gehaltvolle Diskussionen, die Argumente von mehr als 140 Zeichen Länge erfordern, trotzdem auf Twitter geführt werden, weil es hip ist. Auf die hinterlegten Argumente kann man ja jeweils einzeln verweisen (wer macht als erstes einen simpel zu bedienenden Twitter-Verweisraum im Web auf, wo man "das Eigentliche" ablegt?).
Einziges echtes Ärgernis: Bisher bietet Twitter selbst keine Möglichkeit, die Leute, denen man folgt, in verschiedenen Gruppen anzuordnen (das geht separat etwa mit Twitter Digest). Die Labertaschen, die mich mit ihrem „Ich trink jetzt einen Kaffee“-Geposte nerven, würde ich gerne nur einmal pro Woche lesen und entsprechend wegsortieren. Von der Liste löschen will ich sie aber auch nicht unbedingt, weil es vielleicht Freunde sind, die ich in der in der Offline-Welt öfter sehe. Es gibt viele, die Reziprozität erwarten: Folge ich dir, folgst du auch mir. Twitter produziert also nicht nur Zeitfraß, sondern auch noch neue soziale Sachzwänge. Ob ein wie auch immer gearteter Gewinn diese Nachteile überwiegt? In einem Jahr wissen wir mehr.