Berlin. Millionen leiden unter Rückenschmerzen. Sie nehmen Pillen, lassen sich spritzen oder operieren. Ärzte raten jetzt aber etwas anderes.
Rückenschmerzen sind ein Volksleiden. Seit vielen Jahren gehören sie zu den häufigsten Gründen für Arztbesuche, Krankenscheine oder Frühverrentungen. Die Schäden für Betroffene und die Volkswirtschaft sind riesig. Eine neue Studie aus Australien kommt nun zu dem Schluss: Die Linderung der Probleme könnte jenseits von Schmerzmitteln und Operationen liegen.
„Die Ergebnisse sind sehr interessant, auch wenn sie nicht ganz auf Deutschland übertragbar sind“, sagt Professor Marcus Schiltenwolf. Der Orthopäde und Schmerztherapeut von der Universitätsklinik Heidelberg war nicht an der Studie beteiligt.
Ihm zufolge lassen sich Rückenschmerzen in akute und chronische Beschwerden unterscheiden. Chronisch sind sie dann, wenn sie seit mehr als zwölf Wochen andauern. Bei der Behandlung wird zunächst nach spezifischen Ursachen gesucht – Brüche, Entzündungen, Nervenschäden. Wird eine solche Diagnose ausgeschlossen, gelten die Rückenschmerzen als nicht spezifisch.
Rückenschmerzen: Meist Ibuprofen und Co., Wärme und Physiotherapie
Zur Behandlung verordnen Ärztinnen und Ärzte meist Medikamente, Wärme oder Physiotherapie. Oft kommen klassische Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Diclofenac zum Einsatz, bei sehr starken Schmerzen mitunter auch Opioide, obwohl diese laut einer aktuellen Studie bei nicht spezifischen Rückenschmerzen nicht besser wirken als ein Scheinmedikament.
„Bei Rückenschmerzen beginnt oft eine Teufelsspirale nach unten“, sagt Marcus Schiltenwolf. Die Betroffenen vermieden körperliche Aktivität, verlören ihre Fitness und erlebten sich handlungsunfähig. „Am Schluss haben wir Menschen mit unspezifischen Rückenschmerzen, die sich aus dem Leben verabschiedet haben“, sagt der Orthopäde.
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Die Studie aus Australien nennt der Mediziner deshalb interessant, weil sie Erkenntnisse der Vergangenheit stützten. „Was wir daraus lernen können: Wenn man Patienten Mut macht und sie motiviert, ist das besser, als ihnen Angst zu machen. Man muss sie abholen und unterstützen“, sagt Schiltenwolf.
Rückenschmerzen: Studie gibt überraschende Hinweise für Behandlung
Die sogenannte „Restore-Studie“ aus Australien, veröffentlicht im Fachjournal „Lancet“, hat erstmals randomisiert und kontrolliert, also mit höchsten wissenschaftlichen Standards, die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie (CTF) bei chronischen Schmerzen im unteren Rücken untersucht.
CTF ist ein individualisierter Ansatz, der schmerzbezogene Empfindungen wie Angst und die daraus resultierende Verhaltensweisen berücksichtigen und verändern soll. Es geht darum, Schonhaltungen oder das Vermeiden von Bewegung aufzulösen, da diese den Schmerz meist verstärken.
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Für die Studie wurden fast 500 Erwachsene im Durchschnittsalter von 47 Jahren in drei Gruppen eingeteilt. Sie hatten mäßige Rückenschmerzen, die seit mehr als drei Monate anhielten. Über einen Zeitraum von zwölf Wochen wurden sie zufällig drei unterschiedlichen Therapien zugeteilt: einer Standardbehandlung aus Physiotherapie, Massage, Chiropraktik, Schmerzmitteln, Spritzen oder chirurgischen Eingriffen, einer Physiotherapie plus bis zu sieben CFT-Behandlungen oder Physiotherapie, CFT und Biofeedback. Biofeedback ist eine wissenschaftliche Methode, bei der körpereigene, biologische Vorgänge mit technischen Hilfsmitteln nachvollziehbar gemacht werden.
Rückenschmerzen: Orthopäde sieht Lücke in der Versorgung
Im Ergebnis war die kognitive Funktionstherapie wirksamer als die Standardbehandlung. Das Biofeedback zeigte keinen zusätzlichen Nutzen. Auch nach 52 Wochen war der Effekt den Studienautoren zufolge noch immer ähnlich gut.
„Was für die Studie gemacht wurde, gehört in Deutschland leider nicht zur Versorgungsrealität“, sagt Prof. Marcus Schiltenwolf. In Australien sei die unterstützende Verhaltenstherapie von speziell geschulten Physiotherapeuten durchgeführt worden. Das sei hierzulande nicht zu erwarten. Die zentrale Aussage der australischen Studie laut Schiltenwolf: Die psychotherapeutische Schulung der Physiotherapeuten stärke den Behandlungseffekt und mache ihn nachhaltig.
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„Bei uns geht man zu Hausarzt oder Orthopäde und bekommt ein Rezept für Physiotherapie. Hilft das nicht, gibt es irgendwann vielleicht eine ambulante oder stationäre Reha, bei der es dann auch zwei Beratungsgespräche in Sachen Psychotherapie gibt“, sagt der Orthopäde. Das sei aber zu wenig. Gesprächsführung und Gestaltung der Beziehung zum Patienten würden zu wenig berücksichtigt.
Vor dieser Hürde stehen Patienten mit Rückenschmerzen
Jene Behandlung von Rückenleiden in Deutschland, die Körper und Psyche integriere, sei die multimodale Schmerztherapie, erklärt Schiltenwolf. Diese sei der rein körperlichen Therapie nachweisbar überlegen, „weil sie die Patienten besser unterstützt, an schwachen Punkten ansetzt und Ressourcen erreicht“.
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Das Problem dabei: „Wer die Physio- mit der Psychotherapie verbinden will, muss wegen der in Deutschland vorherrschenden Furcht vor Überversorgung zunächst eine Bedürftigkeit nachweisen“, sagt Schiltenwolf. Ohne Nachweis einer psychischen Beeinträchtigung durch Rückenleiden keine multimodale Behandlung.
Experte: Zusatzqualifikation für Therapeuten wäre wünschenswert
„Starke Schmerzmittel bei Rückenschmerzen als Standardbehandlung sind kaum zielführend. Und in der Mehrzahl der Fälle ist auch die Operation keine dauerhafte Lösung“, sagt auch Prof. Hans-Christoph Diener, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Die Studie aus Australien zeige, dass die Bedeutung der funktionellen Aspekte der Rückengesundheit, das heißt richtige Bewegungen, sportliche Aktivitäten beziehungsweise veränderte Verhaltensmuster im Rahmen von Therapie und Prävention nicht oft genug betont werden könnten.
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„Trotz vielfältiger Bemühungen sind die Probleme mit Rückenschmerzen in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht besser geworden“, sagt Marcus Schiltenwolf. Dem Experten zufolge würde es deshalb Sinn machen, häufiger Physio- und Psychotherapie zu kombinieren. „Eine entsprechende Zusatzqualifikation für Physiotherapeutinnen und -therapeuten wäre auch in Deutschland wünschenswert.“