Berlin. ADHS im Alter ist schwer zu erkennen. Viele Betroffene ahnen nicht, dass sie unter dem Syndrom leiden. Eine Ärztin klärt auf.

Bei Kindern scheint die Sache schnell klar: unruhig, unkonzentriert, ständig in Bewegung – da ist der Verdacht ADHS nicht weit. Doch bei älteren Menschen stehen Ärzte oft vor einem Rätsel. ADHS im höheren Alter„ist ein noch wenig beachtetes Gebiet“, so Ulrike Kappel, Leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Mediclin Müritz-Klinikum.

Warum Betroffene selbst oft gar nicht auf die Idee kommen, unter ADHS zu leiden, liege daran, dass von der typischen Zappelligkeit keine Rede sein könne. Für Betroffene bedeute das häufig Hilflosigkeit und eine Odyssee von Arzt zu Arzt.

ADHS als Erwachsener: Das sind die Symptome

Die ärztliche Diagnose sei äußerst schwierig, so Psychiaterin Kappel. ADHS bei Erwachsenen sei insgesamt schwer feststellbar, aber ganz besonders im Alter von ab etwa 60 Jahren. Denn die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung stelle sich bei Menschen im höheren Lebensalter völlig anders dar als bei Jüngeren.

Das, was als „Zappelphilipp“-Phänomen bekannt ist und zur Bezeichnung der Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen ein wenig flapsig im Umlauf ist, trifft nicht auf Erwachsene und schon gar nicht auf ältere Menschen zu. „Sie fühlen sich im Gegenteil manchmal antriebslos“, so Kappel.

In der Fachliteratur ist vielfach von „innerer Unruhe“ zu lesen, die die Patienten nicht loswerden könnten und die so zu einem „inneren Druck“ führten. Das wiederum hat Auswirkungen auf die ganz konkrete Lebensgestaltung, so Kappel. Denn die Betroffenen hätten Schwierigkeiten, die Dinge des Alltags in Angriff zu nehmen.

Dilemma: ADHS-Betroffene werden als faul und charakterschwach stigmatisiert

Aufräumen, putzen, Schreibtisch aufräumen, Unterlagen sortieren. So etwas falle diesen Menschen äußerst schwer, berichtet die Psychiaterin. Doch bei solchen eher lapidar klingenden Problemen denke ja kaum einer an ADHS. Häufig werden die Menschen für faul und charakterschwach gehalten, sagt Kappel. Dass das nicht gut ist für das Selbstwertgefühl liege auf der Hand.

Einfach keine Energie mehr: Viele ältere ADHS-Erkrankte wissen nicht, wie sie ihre Arbeit erledigen sollen.
Einfach keine Energie mehr: Viele ältere ADHS-Erkrankte wissen nicht, wie sie ihre Arbeit erledigen sollen. © iStock | istock

Die Schwierigkeit bei der Diagnosestellung habe auch damit zu tun, dass die Symptome auf andere psychischen Erkrankungen hinweisen würden, wie Depressionen, Burnout oder Angststörungen. Selbst Demenz gerate unter die Verdachtsdiagnose. „Es kommt ja sehr oft vor, dass die Betroffenen Dinge verlegen und sie einfach nicht wiederfinden.“ Das mache ihnen zunehmend Angst. Ein klares Zeichen, dass es sich nicht um Demenz handelt, sei allerdings dies: „Wenn dieses Verlegen der Dinge schon seit der Kindheit besteht“, so Ulrike Kappel.

Bei den heute Sechzigjährigen wurde ADHS früher meist übersehen

ADHS im Alter kommt nicht angeflogen. Es besteht meist schon seit der Kindheit, da ist sich die Fachliteratur einig. Aber noch bis vor etwa 15 Jahren herrschte die Auffassung vor, dass ADHS sich mit der Pubertät „auswachse“, so das Deutsche Ärzteblatt, und eine Behandlung nach diesem Alter nicht mehr notwendig sei. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass die Störung auch im Erwachsenenalter fortbesteht.

Bei den heute Sechzigjährigen wurde sie jedoch oft gar nicht in der Kindheit oder Jugend entdeckt, so Kappel. Damals stand ADHS in der Medizin noch nicht im Fokus. Die Kinder waren zappelig, unkonzentriert, aber da sie sowieso meistens draußen waren und spielten, bekamen die Eltern vieles nicht mit.

Das Problem sei, dass die Betroffenen oft über Jahre, nicht selten sogar Jahrzehnte, unter großem Leidensdruck stehen, so die Psychiaterin Ulrike Kappel. Durch ihre krankhaft bedingte Aufmerksamkeitsstörung würden sie fälschlicherweise oft für unfähig gehalten. In vielen Fällen werde die Krankheit verschleiert, weil die Menschen sich in ihrer Abseitsrolle einrichteten, sagt die Ärztin.

ADHS: Betroffene Menschen haben oft Schwierigkeiten am Arbeitsplatz

Kappel berichtet in einem Beispiel, das typisch sei, von einer Frau, die in einem Forschungslabor arbeitete. „Sie war dort sehr isoliert, aber hat ihr Arbeitspensum immer geschafft. Weil die Ergebnisse stimmten, hat der Abteilungsleiter sie immer unterstützt.“

Erst als es einen Wechsel in der Leitung gab, seien die Probleme der Frau aufgetaucht. Der Nachfolger war ein ganz anderer Cheftyp. Einer, der den Mitarbeitern auf die Finger schaute. „Das war für die Mitarbeiterin nicht auszuhalten, sie ist darunter komplett mit ihren Aufgaben gescheitert, wurde depressiv und dekompensierte psychisch komplett. Nur im geschützten Rahmen konnte sie sich damit einrichten“, so Kappel.

ADHS im Alter: Diagnose und Therapie

Wie aber erkennt man, dass es sich um ADHS handelt? „Man muss sich viel Zeit nehmen für eine ausgiebige Anamnese“, sagt Ulrike Kappel. Über das Erstellen der Vorgeschichte bis in die Kindheit und Jugend könnte man der Krankheit auf die Spur kommen. Auch die Erfahrungen und Beobachtungen von Familienangehörigen sollten bestenfalls mit einfließen, auch Beurteilungen in Schulzeugnissen tragen zur Diagnostik bei.

Zur Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter ist eine Substanz seit Jahrzehnten im Gespräch: Methylphenidat (z. B. in Ritalin), so Kappel. Das Medikament, das lange wegen der möglichen Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit oder Wachstumsverzögerung in der Diskussion war, könne grundsätzlich auch bei der Behandlung älterer Menschen eingesetzt werden, sagt die Psychiaterin.

Allerdings sei es jenseits eines Alters von 60 Jahren „oft nur bedingt möglich“, denn zu den Nebenwirkungen zählten auch Kopfschmerzen, Schlafstörungen, schlechter Appetit, Herzrasen. „Da ältere Menschen aber ja oft schon vorerkrankt sind, gerade, was das Herz-Kreislaufsystem angeht, oft unter zu hohem Blutdruck leiden, ist man bei der Verabreichung vorsichtig“, so Kappel.

Antidepressiva und Verhaltenstherapie statt Ritalin bei ADHS im Alter

Eine Alternative zu Methylphenidat-Präparaten seien Medikamente aus der Gruppe der Antidepressiva. „Die Beeinflussung der Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin führen häufig eine Stabilisierung herbei, was günstige Auswirkungen hat“, erklärt die Ärztin. Auch Atomoxetin könne eingesetzt werden. Ein sogenannter selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der allerdings häufig zu Magen-Darmproblemen und Durchfällen führe.

Im Vordergrund bei der Therapie steht ganz eindeutig die Verhaltenstherapie und damit die Anleitung zum Selbstmanagement, so die Ärztin. „Man muss vor allem die Achtsamkeit trainieren.“ Achtsamkeit im Sinne von „Auf die Dinge achten“: Die Betroffenen müssten zum Beispiel ganz bewusst lernen, darauf zu achten, Schlüssel oder das Handy immer an denselben Platz zu legen.

Selbstorganisation bedeute ganz konkret auch, einer möglichen Vermüllung der Wohnung entgegenzuarbeiten. Doch das sei leichter gesagt als getan. Da helfe es nicht, dass die Einsicht da ist. Die Betroffenen wollen es – können sich aber nicht aufraffen. Deshalb müssten Strukturen aufgebaut werden, zum Beispiel sei es notwendig, feste Zeiten für Erledigung von Tätigkeiten zu vereinbaren.

Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen gilt als wichtiger Baustein in der Therapie von ADHS im höheren Alter.
Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen gilt als wichtiger Baustein in der Therapie von ADHS im höheren Alter. © dpa-tmn | Frank Rumpenhorst

„Es hilft den Betroffenen dann oft, wenn sie diese Momente richtig inszenieren, zum Beispiel ein ,Bitte-nicht-stören’-Schild vor die Zimmertür hängen und natürlich das Handy ausschalten“, erklärt die Therapeutin. Zu lernen, etwas zu bearbeiten ohne sich zu verzetteln kann schwierig sein, wenn man gestört wird. „Man kann manchmal mit fünf Minuten anfangen und es dann steigern, die so genannte Timer-Technik“, so Kappel.

In manchen Fällen werden „Alltagshelfer“ gestellt

Doch was, wenn der Erfolg ausbleibt? In schweren Fällen, vor allem auch dann, wenn sich mehrere psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder eine Suchterkrankung überlagern und ADHS noch oben drauf kommt, könne bei den Behörden Hilfe beantragt werden – so genannte „Alltagshelfer“ können die Betroffenen unterstützen, so Kappel.

Die Diagnose gilt als schwierig. Doch wenn ADHS erkannt ist, seien die Möglichkeiten der Therapien durchaus groß. Denn auch Ergotherapie gelte als äußerst hilfreich, so die Psychiaterin. Und wie in vielen Fällen helfe es den Menschen auch, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Kontakt zu anderen Menschen, die in einer ähnlichen Lage sind, verbinde und stärke Selbstvertrauen wie auch die Gesundheit.