Berlin. Jedes vierte Schulkind hat psychische Probleme. Das zeigt ein neuer Report der Krankenkasse DAK. Welche Faktoren das Risiko erhöhen.

Das Leben kann sich auch für sehr junge Menschen bleischwer anfühlen. Viele Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden unter psychischen Erkrankungen – und die Zahl der Diagnosen steigt. Das beobachten Experten seit Jahren, und das bestätigt ein aktueller Report der Krankenkasse DAK, der am Donnerstag vorgestellt wurde.

Demnach zeigt jedes vierte Schulkind psychische Auffälligkeiten. Bei zwei Prozent der Kinder zwischen zehn und 17 Jahren haben Ärzte eine Depression festgestellt, bei ebenso vielen eine Angststörung. Und die Zahl der Klinikeinweisungen wegen Depressionen hat um fünf Prozent zugenommen, heißt es in dem Report, für den Wissenschaftler der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten aus den Jahren 2016 und 2017 von rund 384.000 DAK-Versicherten im Alter zwischen zehn und 17 Jahren analysiert haben.

„Die Anforderungen an junge Menschen sind gestiegen“

Gründe für steigende Erkrankungszahlen gebe es viele, sagt Professor Stephan Bender, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln, der nicht am Report beteiligt war. Doch eines spiele seiner Meinung nach eine entscheidende Rolle: „Die Anforderungen an junge Menschen sind gestiegen.“

Stress in der Schule, neue Technologien, irreale Schönheits- und Lebensideale, zur Schau gestellt auf Instagram und Co. „Es ist eine Überforderung durch Anforderungen, aber auch durch die Vielzahl an Möglichkeiten, die es heute gibt“, sagt Bender.

Wer nicht in ein stabiles soziales Umfeld eingebunden sei, könne da ins Schlingern geraten. Studien hätten inzwischen gezeigt, dass äußere Einflüsse bei der Entwicklung einer Depression eine größere Rolle spielten als die genetische Empfindlichkeit für die Erkrankung.

Sensibilisierung für das Thema ist gestiegen

Zwar seien die Anforderungen an das kindliche und jugendliche Leben durchaus gestiegen, betont auch Julia Ebhardt vom Portal Fideo, auf dem sich junge Menschen zum Thema Depressionen informieren können und das unter dem Dach der Deutschen Depressionshilfe steht. Doch sei es ihrer Meinung nach vor allem die Sensibilisierung für das Thema Depressionen, die für steigende Diagnosezahlen sorge.

„Die Zahlen zeigen, dass sich mehr Familien, mehr Jugendliche Hilfe suchen. Das ist ein gutes Signal“, sagt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Ebhardt. Denn man dürfe nicht vergessen, sagt Ebhardt, dass man bei Depressionen von einer genetischen Komponente ausgehe.

„Es ist eine Erkrankung, die sich im Gehirn abspielt.“ Äußere Einflüsse wie Stress oder das ständige Vergleichen in den sozialen Medien könnten eine Erkrankung dann natürlich begünstigen. „Sie sind aber meiner Meinung nach nicht allein verantwortlich.“

Chronische Erkrankungen und Adipositas erhöhen das Risiko

Auch der DAK-Report kommt zu dem Schluss, dass bestimmte Faktoren das Risiko für ein seelisches Leiden bei Kindern erhöht, etwa eine chronische Erkrankung, Adipositas oder Schmerzen. Ebenso das familiäre Umfeld könne eine Rolle spielen, heißt es. So hätten Kinder seelisch kranker Eltern ein dreifach erhöhtes Risiko, selbst eine depressive Störung zu entwickeln. In Deutschland wachsen derzeit rund vier Millionen Kinder mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil auf.

Die gewonnenen Erkenntnisse seien sehr wertvoll, sagt der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Thomas Fischbach. Aber: „Im Report sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.“ Es gebe sehr viele Kinder, die litten und erst spät in die Praxen kommen. Erst dann tauchten sie in der Statistik auf.

„Viele Eltern suchen wochenlang nach einer Therapie“

Die Statistik führt laut dem DAK-Report für 2017 rund 240.000 Kinder im Alter von zehn bis 17 Jahren mit einer psychischen Erkrankung wie einer Depression oder Angststörung. Fast sechs Prozent der betroffenen Jungen und neun Prozent der Mädchen mussten deswegen ins Krankenhaus.

Alarmiert zeigen sich die Experten von der hohen Rehospitalisierungsquote. Bedeutet: 24 Prozent der Kinder kamen innerhalb von zwei Jahren mehrfach ins Krankenhaus. „Wir haben offenkundige Versorgungslücken nach der Krankenhausentlassung“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm.

Ebhardt bestätigt das. „Viele Eltern suchen wochenlang nach einer Anschlusstherapie.“ Sie rät, sich an die Ausbildungsinstitute für Psychotherapeuten zu wenden. Dort müssen Therapeuten im Rahmen von Weiterbildungen zu Kinderpsychotherapeuten Sitzungen anbieten.

Wird die Krankheit nicht erkannt, droht eine Abwärtsspirale

Wichtig sei eine frühe Diagnose, sagt Bender. Besonders jene Kinder und Jugendliche deren Symptome noch nicht so ausgeprägt sind, liefen unter dem Radar von Eltern und Ärzten. „Sie funktionieren noch, gehen zur Schule, aber es ist eine Qual für sie“, erklärt der Psychiater. Werde die Lage der Kinder nicht frühzeitig erkannt, drohe eine Abwärtsspirale.

Doch gerade bei Jugendlichen sei es schwierig, eine Depression zu erkennen, sagt Bender. „Da verschwimmen die Grenzen zur Pubertät.“ Dass Jugendliche Türen schlagen und sich auch mal zurückziehen – geschenkt. „Kriterium ist hier eine Dauer von etwa 14 Tagen, in denen Eltern nicht an ihr Kind herankommen“, sagt Ebhardt.

Das Selbstwertgefühl darf nicht allein an guten Noten hängen

Doch es seien nicht nur die offensichtlichen Symptome wie eine melancholische Grundstimmung, die auf ein seelisches Leiden hinwiesen, betont Ebhardt. Auch körperliche Symptome wie krankhafte Unruhe oder Aggressionen könnten Alarmzeichen sein. „Gerade jüngere Kinder haben noch keine Worte dafür, dass sie sich niedergeschlagen fühlen.“ Sie sagten dann etwa: Der Bauch tut weh.

Um das Risiko einer psychischen Erkrankung klein zu halten, ist eines laut den Experten besonders wichtig: Selbstvertrauen. „Wenn ich weiß, wer ich bin, wenn ich meinen Platz kenne, hat es eine solche Erkrankung schwerer“, sagt Bender. Hänge das Selbstwertgefühl etwa nur an guten Noten, sei das Gefühl sehr leicht zu erschüttern. „Wichtig ist es für Eltern, immer in Kontakt mit den Kindern zu bleiben“, sagt Ebhardt. Auch wenn sie älter werden.

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