Berlin. Faktoren wie Wetter und Stress beeinflussen das Auftreten von Migräne. Die App M-sense erfasst individuelle Gründe und schlägt Therapien vor.
Dem 4. September 2016 fieberten die Gründer schon eine ganze Weile entgegen. Einen Tag vor dem von Medizinern ausgerufenen bundesweiten Kopfschmerztag entließen die Entwickler der App M-sense ihr Werk in die Welt. Seitdem steht das Programm, in das sie so viel Arbeit, Zeit und Herzblut gesteckt haben, im Android-Shop zum Download bereit. Die Version fürs iPhone soll 2017 kommen.
„M-sense kann Migräneattacken intelligent beobachten“, sagt Stefan Greiner. Er ist in erster Linie für die Nutzfreundlichkeit der Software verantwortlich und einer der vier Gründer. „Anschließend schlägt einem die App eine passende Therapie vor.“
Einige Investoren sind schon überzeugt
Was so einfach klingt, ist über gut anderthalb Jahre erdacht, konzipiert und programmiert worden. Die Basis sind Daten und Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung. Die Gründer kooperieren beispielsweise mit Migräneforschern der Charité und den Helios Kliniken.
Vor zwei Monaten hat sie das Helios Hub unter seine Fittiche genommen. Das ist ein sogenannter Accelerator, also eine Einrichtung, die durch Coaching und Netzwerkkontakte junge Firmen voranbringt. Das Helios Hub konzentriert sich auf Gründer, die digitale Lösungen für Fragen oder Probleme im Bereich Gesundheit gefunden haben. In der Branche heißt das „eHealth“. Auch Investoren haben die M-sense-Macher schon von ihrer App überzeugt. Fürs kommende Jahr streben sie die Zertifizierung als Medizinprodukt an.
Promovierter Migräneforscher im Team
Nicht zuletzt gehen auch die – anonym übermittelten – Erfahrungswerte der Nutzer in das Programm ein. Die Betaversion von M-sense, mit der die Gründer noch nicht an die große Öffentlichkeit gegangen waren, haben 60 Migränepatienten benutzt. „Bald werden wir auch eine erste Studie mit dem Unfallkrankenhaus beginnen können“, sagt Co-Gründer und Softwareentwickler Martin Späth.
Zum Gründungsquartett gehören außerdem Informatiker und Data Scientist Simon Scholler und Markus Dahlem, promovierter Migräneforscher, der sich dem Thema schon vor 15 Jahren verschrieben hat und sich seitdem wissenschaftlich mit der Krankheit beschäftigt.
Zwölf Prozent der Menschen sind betroffen
Das Interesse, das ihnen Ärzte und Wissenschaftler entgegenbringen, freut die Gründer. Beispielsweise sei er neulich zur Podiumsdiskussion mit einer Runde von Medizinern eingeladen gewesen, erzählt Stefan Greiner. Er verhehlt auch nicht, dass ihn diese Anerkennung beeindruckt.
Migräne könne man durchaus als Volkskrankheit bezeichnen, sagt Greiner. „Etwa zwölf Prozent der Menschen in Deutschland sind davon betroffen.“ Bei zwei Prozent sei die Krankheit chronisch, was bedeute, dass sie an 15 Tagen oder mehr pro Monat von Kopfschmerzen geplagt werden. „Unser Ziel ist, die Kopfschmerztage der Betroffenen um 40 Prozent zu reduzieren“, sagt Stefan Greiner.
App fragt Schlafdauer und Stresslevel ab
Voraussetzung dafür ist die Diagnostik. „Es geht darum, die Einflussfaktoren zu erkennen, die zu einem Migräneanfall führen“, erklärt Stefan Späth. Dafür ruft M-sense Wetterdaten ab – Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit – und fragt den Nutzer nach seinen sogenannten Lebensstilfaktoren: Schlaf, Ernährung, Stress, Aktivitätslevel und eingenommene Medikamente gehören dazu.
„Bald wollen wir das Programm um die Umweltfaktoren erweitern“, kündigt Stefan Greiner an. „Auch UV-Strahlung beispielsweise kann Einfluss auf Migränepatienten haben.“ Auf Basis der erhobenen Daten kann M-sense analysieren, welche Faktoren dafür mitverantwortlich sind, ob ein Migräneanfall kommt oder nicht.
Vorschläge für den Patienten, was helfen kann
Liegen dem Programm genügend Erfahrungswerte vor, kann es individuell auf den Patienten abgestimmte Vorschläge machen, was diesem jetzt helfen würde. Eine Entspannungsübung kann das sein, eine Mahlzeit, ein Medikament in bestimmter Dosierung. Nachdem ein Patient acht Migräneattacken dokumentiert hat, erhält er die erste statistische Auswertung, sagt Stefan Greiner.
Angedacht war ursprünglich, Aktivitäten und Schlaf der Nutzer automatisch messen zu lassen. „Aber in Gesprächen mit Patienten haben wir festgestellt, dass sie das gern händisch machen wollen“, sagt Stefan Greiner. Vielleicht rühre das daher, dass alle Erfahrungen im Führen eines Migränetagebuchs hätten, vermutet er. Jedenfalls haben sich die M-sense-Programmierer auf den Wunsch der Patienten eingestellt.
Betroffene Mitbewohnerin brachte sie auf die Idee
Was sie auch künftig so handhaben wollen: „Der Austausch mit unseren Nutzern ist für die weitere Entwicklung der App ein ganz wichtiges Element“, sagt Martin Späth. Das Ziel: „Mittel- bis langfristig wollen wir dahin, dass wir von Ärzten empfohlen werden“, kündigen die Gründer an.
Auf die Idee zur App kam Stefan Greiner, weil auch seine Mitbewohnerin seit vielen Jahren unter Migräne leidet. Beide vermuteten, dass Umweltfaktoren einen Einfluss darauf haben, ob man von einer Attacke überfallen wird.
App soll in andere Sprache übersetzt werden
Greiner sprach Markus Dahlem an, den er zufällig privat kennengelernt hatte und von dem er wusste, dass er sich mit dem Thema wissenschaftlich befasst. „Ich bin bei ihm offene Türen eingelaufen“, erzählt Greiner. Dann habe er noch zwei Freunde angerufen, die das nötige Know-how für die Technik mitbringen würden. Der Entschluss, gemeinsam zu gründen, war schnell gefasst.
Wie es jetzt weitergeht? 2017 wollen die Gründer erst einmal weitere acht Mitarbeiter einstellen und M-sense in andere Sprachen übersetzen, um die App international zu etablieren. Und schließlich können sich die Gründer auch vorstellen, ihr Angebot auf andere Erkrankungen wie Epilepsie oder Depressionen auszuweiten. Langfristig sollen 30 bis 40 Mitarbeiter zum Team von M-sense gehören, kündigt Stefan Greiner an.