Norwich. Kleine Strandhütten, die als besonders kostbar gelten, herrlich weite Uferwege, Shopping und Kultur: Norfolk in Ostengland lohnt sich.

Schon auf der schaukeligen Zugfahrt von London Richtung Osten, entlang sattgrüner Weiden und kleiner Ortschaften, könnte das Angebot des Bordbistros englischer nicht sein, denn es gibt: Porridge to go! Während ich den schmackhaften Haferbrei mit etwas ­Honig aus dem Pappbecher löffele, am Earl-Grey-Tee nippe und im Zugabteil Gesprächen in feinem britischen Englisch lausche, fühle ich mich wie zu Hause. Denn nach mehr als 20 Jahren zieht es mich zurück in die Vergangenheit, zurück in meine Au-pair-Heimat, die dort liegt, wohin sich bis heute kaum ein internationaler Tourist verirrt.

„Wohin fährst du? Norfolk?“, fragten mich Kollegen vor der Reise. Genau. Norfolk. Dorthin, wo sich an endlosen Stränden Möwe und Seehund Gute Nacht sagen. Und wo Little Snoring, so der Name des einstigen Nachbardorfes, tatsächlich Programm ist. Nach zweistündiger Fahrt checke ich zunächst in Norwich, dem urbanen Herz der Grafschaft, in das Marlborough Guest House ein, schlüpfe in meine Turnschuhe und laufe drauflos.

Berühmtester Held dieser Gegend ist Admiral Nelson

Das hübsche Städtchen Norwich, dessen Universität viele junge Menschen anzieht und bereits Literaten und Nobelpreisträger hervorgebracht hat, liegt eine knappe Autostunde von der Nordseeküste entfernt. Im Mittelalter galt die Stadt nach London als zweitwichtigstes Zentrum des Landes und wurde durch die Nähe zum Meer elementare Drehscheibe für den Handel. Sich auf Erkundungstour an mittelalterlichen Kirchen orientieren zu wollen, ist wenig hilfreich, die Stadt hat mehr als 30 von ihnen. Eine von ihnen fällt auf: Die normannische Kathedrale mit fast 100 Meter hoher Spitze, die wie ein Leuchtturm emporragt .

Wohl berühmtester Held dieser Gegend ist Admiral Nelson, der sein Leben bekanntlich bei Trafalgar ließ. Einst wurde er auf diesem Kathe­dralengrund unterrichtet, stammte er doch aus dem nahe gelegenen Küstenörtchen Burnham Thorpe.

Einkaufen auf dem legendären Marktplatz

Der River Wensum schlängelt sich in aller Seelenruhe durch das lebendige Städtchen, Urlauber machen hier auf ihrer Reise durch die Kanäle der Norfolk Broads mit ihren Hausbooten fest und erledigen Einkäufe. Auf dem legendären Marktplatz, einem der ältesten Englands, findet man in rund 200 fest installierten bunt gestreiften Buden alles, von der Tomate bis zum Tanzschuh. Oberhalb des Market Place thront neben dem Rathaus ein Komplex aus Glas und Stahl, die Millennium Library. Dies moderne Kulturzentrum ist Touristeninfo, Ausstellungsfläche und öffentliche Bibliothek in einem und verpasst Norwich einen modernen Schliff.

Ich lasse mich durch verwinkelte Einkaufsgassen entlang des Gentleman’s Walk und der Pottergate treiben und flaniere wenig später auf uraltem Kopfsteinpflaster durch den mittelalterlichen Stadtteil Elm Hill, hinter dessen windschiefen Fachwerkfassaden sich hübsche Cafés und Lädchen verstecken. Zur Tea Time lockt es mich schließlich für einen „cuppa“ in das knallbunte ­Vintagecafé Biddy’s Tea Room, wozu mir köstliche, ofenwarme Scones mit „clotted cream“ gereicht werden. Für die nächsten acht Stunden gesättigt, schlendere ich zurück ins Hotel.

Der Norfolk Coast Path ist eine Wanderroute der Extraklasse

In den BBC News am nächsten Morgen erfahre ich, dass nicht nur Prince Harrys Geburtstag, sondern zugleich der „Battle of Britain Day“ ge­feiert wird. Erinnert wird an die Luftschlacht, die die Royal Air Force ab 1940 gegen die deutsche Luftwaffe führte – und gewann. Norwichs Zentrum ist ­geprägt von Militärparaden und nicht enden wollenden Ansprachen. Als mittags gar eine alte Spitfire im Tiefflug über die Stadt hinwegjagt, beschließe ich, dass es vielleicht an der Zeit sei, ins Mietauto zu springen und Richtung Hunstanton aufzubrechen.

An diesem Küstenort beginnt eine Wanderroute der Extraklasse: der Norfolk Coast Path. Über mehr als 100 naturgeschützte Küstenkilometer fügt sich ein Strand an den nächsten, bevölkert von Austernfischern, Schneeammern und ihren gefiederten Freunden, die an dieser goldgelben Küste nisten. Der Weg führt entlang feinsandiger ­Dünen und Strände, Steilküsten und Salzwiesen. Wanderer, stativbeladene „Birdwatcher“, Radler und Reiter pilgern über diesen Küstenweg, ohne dass er sich je nur annähernd füllt. Bis heute ist diese Region frei von Bausünden und Bettenburgen. Wie verwunschen liegen stattdessen die Umrisse kleiner Flintsteindörfer im Küstennebel – und bis heute führt keine einzige Autobahn durch diese Grafschaft. Eine relativ neue Errungenschaft sind stattdessen die praktischen, grünen „Coasthopper“ – Pendelbusse.

Sie sollen die Küste möglichst autofrei halten und verbinden die kleinen Ortschaften zwischen Hunstanton und Cromer sogar in den Wintermonaten, wenn Kolonien von Kegelrobben samt bezauberndem Nachwuchs in Bananenposen den Strand bevölkern. Gar nicht weit entfernt liegt das Sandringham House, der prächtige Landsitz der Königsfamilie, in dem die Queen Weihnachten zu feiern pflegt – und dessen wunderschönen Schlossgarten und Park auch Normalsterbliche das ganze Jahr hindurch besuchen können.

Das Neueste ist, dass nun auch Kate und William Norfolker geworden sind und samt Familie in der nahe gelegenen Anmer Hall residieren – inklusive neu verhandelter Flugverbotszone. Sogar Hollywood hat von dem Landstrich Kenntnis. Szenen aus „Shakespeare in Love“ wurden an der hiesigen Küste gedreht. Und hartnäckig hält sich noch das Gerücht, Johnny Depp wolle sich hier einkaufen.

Hier ist immer eine Zeit für eine Tasse Tee

Den nächsten Stopp, das Fischerdorf Wells-next-the-Sea, erinnerte ich als altbackenes Örtchen an der Salzmarsch. Doch seinen wahren Schatz muss ich damals übersehen haben, vielleicht, weil er sich dem Besucher nicht sofort offenbart. Erst wenn man eine Meile Richtung Meer spaziert, erblickt man sie hinter einem Kiefernwäldchen an den Dünen: bonbonfarbene Strandhütten auf Stelzen, gut einen Kilometer entlang eines goldgelben Strandes. Diese kleinen Juwelen, meist in Familienbesitz, haben sich in der Zwischenzeit bis in die stressgeplagte Londoner Finanzszene herumgesprochen, erzählt mir Andrew, der gerade das „beach hut“ seiner Familie auf Vordermann bringt. Die nämlich wollen die Strandhütten nicht nur mieten, sondern gleich kaufen. „Es ist unglaublich. Manche zahlen weit mehr als 100.000 Pfund, dabei haben die Holzhäuschen weder Platz für ein Bett noch fließend Wasser“, sagt er grinsend. „Es sind am Ende ja einfach bunte Hütten auf Stelzen. Aber einmalig sind sie schon.“ Mit einem Kaffee aus dem Beach Café setze ich mich auf die Verandastufen einer pastellfarbenen Hütte, schaue über den weiten Strand und die Dünen hinweg in die Weite aufs Meer.

Für die nächsten zwei Nächte quartiere ich mich im familiären Bed & Breakfast Mill House ein und treffe beim Frühstück am nächsten Morgen auf Cloe. Die erzählfreudige Hebamme aus London unternimmt eine Birdwatching-Tour mit ihrer Schwester und gibt mir noch den Tipp, unbedingt im Küstenort Sheringham vorbeizuschauen, wo am nahenden Wochenende eine riesige 40er-Party steigen würde. Ich stellte mir fröhliche Swingbands und Damen in hochgeschlossenen Kleidern oder Petticoats vor. „Come and feel the excitement of the Blitz“, locken Websites Besucher an, und die kommen in Scharen. In Vintagekleidern und Militäruniformen. Gerade sehe ich Churchill um die Häuserecke huschen. Eine Themenparty mit nostalgischem Augenzwinkern. Und mit jener bizarren Attitüde, wie sie wohl nur die Briten beherrschen, die es anscheinend nicht lassen können, auf diese Weise an ihre letzte gewonnene Schlacht zu erinnern.

Unangekündigtes Wiedersehen nach 20 Jahren

Als Deutsche komme ich da gerade recht und bestelle Fish ’n’ Chips, demonstrativ unter Vernachlässigung des th. „Ha, mein Großvater ist auch aus Deutschland – aber erzähl es nicht weiter“, sagte die junge Kellnerin lachend. „Genieß die Party, du wirst sicher viel Spaß hier haben!“

Doch dazu bleibt leider keine Zeit mehr. Denn das i-Tüpfelchen, die Überraschung, von der ich selbst noch nicht weiß, wie sie ausgehen würde, hebe ich mir für den Schluss der Reise auf. Ich fahre zurück Richtung Little Snoring und klingele nach mehr als 20 Jahren ohne zwischenzeitlichen Kontakt und völlig unangekündigt an der Tür des Ehepaars, dessen Kind ich damals hü­tete. Sie öffnen. Und es ist höchste Zeit für einen Earl Grey. „It’s always teatime“, stellte ja bereits der Hutmacher bei „Alice im Wunderland“ fest.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit KLM über Amsterdam oder alternativ von London mit dem Zug nach Norwich. Weiter mit dem „Coasthopper“ Bus (www. stagecoachbus.com).

Übernachten In Norwich: Fußläufig zum Bahnhof liegt das renovierte Marlborough Guest House (www. marlboroughguesthouse.co.uk). Für Vegetarier/Veganer: „Number 15 B & B“ (www.number15bedandbreakfast. co.uk) In Wells-next-the-Sea: Das historische Mill House (www. millhousewells.co.uk) bietet acht Zimmer mit Ausblick ins Grüne.

Beach-Huts Ab etwa 180 Euro pro Woche kann man eine Strandhütte mieten (www.beach-huts.com).

Auskunft www.visitnorthnorfolk.com, www.norfolktouristinformation.com, www.visitnorfolk.co/uk