Berlin. Die Digitalisierung verändert das Lernen an Schulen und Unis ganz grundlegend. Ein Gespräch mit dem Microsoft-Manager Anthony Salcito.
Die Digitalisierung krempelt die Welt um und macht auch vor dem Bildungssektor nicht halt. Dabei gehe es „um einen fundamentalen Wandel des Lernens“, sagt Anthony Salcito, Chef der weltweiten Bildungssparte bei Technikgigant Microsoft.
Wir haben früher mit Tafel und Textbuch gearbeitet – heute nutzt man oft Smartboards und Tablets. Ist das wirklich ein so großer Unterschied?
Anthony Salcito: Viele verwechseln Automation mit Transformation. Neue Technologien hat es in Schulen immer gegeben, der Kugelschreiber hat den Bleistift ersetzt, der Bleistift davor Griffel und Schiefertafel. Diesmal geht es aber um einen fundamentalen Wandel des Lernens. Es geht darum, wie wir kommunizieren, wie wir Informationen sammeln und verarbeiten.
Salcito: Noch vor zwanzig Jahren waren Lernmaterialien in Deutschland nur begrenzt verfügbar, um zu lernen, musste man sich in einem Klassenraum, einer Schule, vielleicht noch in einer Bibliothek aufhalten. Durch Technologie gibt es all das auch außerhalb unserer Schulen, mitten in unserem Alltag, die Verbindung zum Internet schenkt uns Zugriff auf unbegrenzte Informationsfülle.
Wie genau könnte dieser Wandel des Lernens aussehen?
Salcito: Großbritannien etwa hat erkannt, dass es – im Vergleich zu anderen entwickelten Nationen – in Bezug auf Absolventen der MINT-Fächer (Fächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, Anm. der Red.) deutlich hinterherhinkt. Nun haben wir gemeinsam mit Großbritannien den Lehrplan umgestaltet. Ein Teilprogramm haben wir gemeinsam mit der BBC erarbeitet: micro:bit. Das ist ein kleiner Computerchip, der einer Million Schülern in ganz Großbritannien zur Verfügung gestellt wurde. Da können Dinge wie ein Regensensor, ein Spannungssensor oder LEDs angeschlossen werden. Schüler können ihn programmieren und in der tatsächlichen Welt nutzen. Micro:bit ist dort jetzt Teil des Lehrplans und wird von Sechstklässlern genutzt.
Welche Trends gibt es noch?
Salcito: Die Nutzung von Daten und deren Analyse im Lernraum. Das ist teilweise schon jetzt Realität, ganz sicher aber ein Zukunftstrend. Schulen nutzen Daten, um den Unterricht zu personalisieren. So kennen die digitalen Bücher und Lernmaterialien den Schüler und seine Lerngeschichte, vielleicht auch die besonderen Bedürfnisse. Wenn etwa ein Test ansteht, spiegeln die Materialien dies wider – etwa indem sie dem Schüler Inhalte zeigen, die er dafür lernen sollte.
Sie arbeiten bereits an so etwas?
Salcito: Absolut. Wir nutzen dazu die maschinelle Lerntechnologie „Cortana Analytics“. Damit lassen sich Daten auf unterschiedlichste Weise nutzen. Viele Länder mühen sich etwa vorauszusagen, ob ein Schüler die Schule abbricht oder auch nur, ob ein Schüler in der anstehenden Klassenarbeit Probleme haben wird. Bislang konnte man Daten nur rückwirkend auswerten: Wie oft ist ein Schüler beim Unterricht erschienen, oder welche Schüler haben die Schule abgebrochen? Was man hier verändern möchte, ist, dass man weg von einer bloßen Leistungsmessung hin zu einem Vorhersagesystem kommt. Langsam sehen wir Schulleiter, die Daten nutzen, um Lehrern rechtzeitig sagen zu können: „Dieser Schüler in deiner Klasse läuft Gefahr, in drei Monaten durchzufallen“ oder „Schüler X hatte mit diesem Lernmodul Probleme, deshalb wird er vermutlich auch mit diesen Lerninhalten Probleme haben“.
Das Sammeln von Daten macht vielen Menschen Angst: Wie überzeugen Sie Schulleiter und Lehrer von den Vorteilen?
Salcito: Es geht vor allem um einen Kulturwandel. Eine unserer Empfehlungen ist, dass man Analysetools erst einmal nutzt, um die Schule effizienter zu betreiben, also für Dinge wie Energiemanagement oder die Abschaffung von Papierformularen.
Ein schönes Beispiel ist eine Universität in den USA, die Probleme hatte, diesen digitalen Kulturwandel zu vollziehen. Sie suchten sich deshalb zunächst ein Problem, das alle an der Universität hatten: Parkplätze. Also sagten wir: Okay, lasst uns Parkdaten sammeln. Um zu parken, mussten sich die Studenten mit ihrem elektronischen Studentenausweis am Parkplatztor und am Drehkreuz ein- und auschecken. So wurde festgehalten, wer sich wann auf dem Parkplatz aufhielt. Mit diesen Daten konnte die Uni ermitteln, wann der Parkplatz besonders voll oder leer war. Mithilfe der Maschinen-Lern-Algorithmen wurden die Daten nun dahingehend analysiert, was der beste Stundenplan auf Basis der Parksituation ist.
Diese Universität hat so eine Kultur der Datennutzung aufgebaut – gleichzeitig gab es den Technikern Zeit, den Umgang damit in Ruhe zu testen.
Parken ist das eine – wie aber überzeugen Sie Lehrer, Technologie und Daten auch in den Unterricht einzubeziehen?
Salcito: Die Menschen müssen verstehen, dass Daten ein mächtiges Werkzeug sind, das sie als Hilfsmittel nutzen können, um effektiver zu sein und die größte Wirkung auf Kinder zu erzielen. Das ist das große Missverständnis an vielen Schulen: Jeder wird dazu gedrängt, Technologie begeistert anzunehmen, aber in vielen Fällen haben wir keinen Anwendungsfall für die Lehre entwickelt.
Statt der Technologie sollten wir die Schüler an erste Stelle setzen. Wenn man sich Fragen stellt wie „Wie kann ich den individuellen Bedürfnissen des Schülers gerecht werden?“ oder „Wie manage ich einen Klassenraum mit 30 Kindern?“ – dann kann Technologie tatsächlich eine Antwort für viele davon sein. Stattdessen aber wird häufig einfach Technik angeschafft. Der Hinweis, den ich einem Schulleiter geben würde, ist, dass man erst mit den Menschen anfängt, mit der Kultur an der Schule und dann erst Technologie hinzuzieht.
Sie setzen auf fähigkeitenbasiertes Lernen. Was heißt das?
Salcito: Jeder spricht von der großen Wichtigkeit von Kreativität – aber viele Lehrer wissen nicht, wie sich diese Kreativität definieren lässt und wie man verschiedene Grade bei Schülern erkennt und diese inspiriert. Bei Produkten wie Minecraft (ein Computerspiel zum Gestalten von Welten, Anm. d. Red.) sehen wir, wie das von allein geschieht: Eines der Dinge, die wir dabei gelernt haben, ist, dass eine Menge bei Minecraft jenseits des Computers passiert. Schüler sprechen miteinander, teilen Ideen. Gemeinsam werden Probleme durchgearbeitet – wie gehe ich an eine große Herausforderung heran, wie löse ich sie. Wenn etwa eine berühmte, deutsche Sehenswürdigkeit nachgebaut werden soll, teilen sich die Schüler die Aufgaben auf: Einer erstellt die Architektur, einer kümmert sich um die Recherche in den historischen Quellen und so weiter. All das passiert bei Minecraft organisch im Prozess.
Gibt es ein Land, von dem man im digitalen Transformationsprozess lernen kann?
Salcito: Das ist die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird – und es ist die Frage, die am schwersten zu beantworten ist. Die Innovationen, die wir sehen, geschehen nicht auf einer Länderebene, sie passieren auf Klassenraumebene – oftmals reicht das dann nicht mal bis über den Flur. Deshalb müssen wir andere Lehrer mit guten Beispielen inspirieren, um ihnen zu zeigen, was möglich ist. Und dann fangen vielleicht auch ganze Länder an, diese Idee begeistert umzusetzen.
Ein gutes Beispiel ist Finnland. Die Stärken der Finnen sind nicht ihre Testresultate. Es ist die Art, in der die Finnen auf ihre Bildung stolz sind, der Respekt für den Lehrerberuf. Das ist die Stärke, von der andere Länder lernen sollten.