Bolschoje Goloustnoje. Der Baikalsee gilt als geheimnisvolles Sehnsuchtsgewässer. Wer am Great Baikal Trail langwandert, erlebt die Besonderheiten Russlands.

Das Panorama ist so weit wie blau. Bis zum Horizont reicht dieses Blau, wo man den Übergang zum wolkenlosen Himmel kaum erkennen kann. Nur ein paar Möwen segeln durchs Bild. Die trockene Luft duftet nach Kiefern. Und dass die Sonne brennt, merkt man durch die angenehme Brise kaum. Fast könnte man glauben, man sei irgendwo am Meer. Tatsächlich wird dieses ganz große Blau zumindest von den Sibirjaken gern „heiliges Meer“ genannt. Und irgendwann in ferner, ferner Zukunft soll das Gewässer sogar mal ein Ozean werden, wie Forscher vermuten. Schließlich wächst es: „Zwei Zentimeter breiter wird es jedes Jahr und ein klein wenig tiefer“, erklärt Touristen- und Wanderguide Varvara Selivanova.

Vorerst aber handelt es sich „nur“ um einen See, wenn auch um einen ganz besonderen: den Baikalsee, dieses geheimnisvolle Sehnsuchtsgewässer, gelegen um die 5000 Kilometer östlich von Moskau. Schließlich ist der See, der vor mehr als 25 Millionen Jahren entstand, der älteste der Welt. Er reicht mit 1642 Meter so tief wie kein anderer und ist 80 Kilometer breit und über 600 Kilometer lang. Die Tour mit Varvara beschränkt sich im Südwesten auf einen sehr beliebten Abschnitt des sogenannten Great Baikal Trails: rund 60 Kilometer in drei Tagen, etwa fünf Prozent der Küstenlinie entlang. Immerhin.

Das Dorf am Startpunkt der Reise wirkt wie aus der Zeit gefallen

Start ist bei Frau Galina in Bolschoje Goloustnoje. Die ehemalige Lehrerin mit gemütlichem Körperumfang betreibt dort eine Pension. Der Standard ist zwar sehr einfach mit den Freiluftwaschbecken und einem Plumpsklo, wie es für die meisten Häuser in den Dörfern hier noch typisch ist. Gleichsam strahlt ihr Hof aber eine verwunschene, bunte Märchenhaftigkeit aus. Fischernetze hängen an den Wänden, süße Kätzchen streunen herum und an einem alten, türkisen Traktor nagt gemächlich der Zahn der Zeit. Überhaupt wirkt bei Frau Galina alles wie aus der Zeit gefallen – so wie das gesamte Dorf, das die kleine Wandergruppe nach dem Frühstück hinter sich lässt. Vorbei an den letzten, bisweilen windschiefen Holzhäusern mit den traditionellen Schnitzereien. Vorbei an den letzten Campern, die sich zwischen den Bäumen Zeltplätze mit exklusivem Seeblick gesucht haben. „Haraschowa Bachoda – gute Wanderung“, ruft Alexander, Mitte 50 und aus dem nahen Irkutsk, der nach dem kurzen Plausch den Morgenspaziergang mit seinem Lolli im Mund fortsetzt.

Nach und nach verlieren sich die Zeichen der Zivilisation, bis um einen herum nur noch Baikal-Landschaft ist. Der Weg schlängelt sich dabei mal direkt am Wasser entlang, mal höher über dem Ufer. Meist ist er so schmal wie ein Trampelpfad, auf dem man bisweilen so dicht am Abhang läuft, dass man nicht hinunter schauen will.

Der See hat Trinkwasserqualität

Lieber nach rechts: Da ist die Felsküste bewuchert mit Wiesen, Felsen und Wäldern aus Buchen, Lärchen, Kiefern und Birken. Und weiter nach links: Da ist der Baikalsee, der seine sanften Wellen am Ufer aufschlagen lässt. Wind. Wellenrauschen. Zikaden. Und der Duft der Bäume. „In der Gegend wurden Felszeichnungen gefunden, die mehrere Tausend Jahre alt sind“, erklärt Varvara, die fließend Deutsch spricht. „Vor den Kosaken lebten hier Urvölker wie die Jakuten und die Burjaten.“ Vor allem Letztere praktizieren bis heute ihren uralten, schamanischen Glauben an Götter, Geister und spirituelle (Heiler-)Rituale, der sogar die Sowjetzeit überlebt hat.

Varvara geht trotz des körperlich durchaus herausfordernden Weges meist mit strammem Schritt vorweg – und das, obwohl sie noch den schweren Rucksack mit Proviant und Ausrüstung für die nächsten Tage geschultert hat. Glücklicherweise muss man kein Wasser mit sich herumschleppen. Denn der Vorrat ist unerschöpflich und direkt vor der Nase. „Der See hat Trinkwasserqualität“, sagt Varvara. Daher muss man bei leerer Flasche einfach nur kurz rein ins Wasser. Doch selbst das ist manchmal leichter gesagt als ausgehalten. Denn selbst im Sommer, wenn es die Lufttemperatur nach dem langen, tief vereisten Winter auf über 20 Grad schafft, ist das Wasser an manchen Stellen im See so kalt, dass ein Bad eher Mutprobe als Verlockung ist. Dass ein Bad im Baikalsee um Jahre jünger machen soll, kann daran nichts ändern.

Am Abend in der Sauna kommt der Birkenzweig zum Einsatz

Dann schon eher der Saunagang am Abend in den Hütten des Nationalparks, zu denen auch eine traditionelle Banja gehört. Der eigenbrötlerische Förster Wladimir hat schon angeheizt. Wie die russische Sauna mit ihren Ritualen funktioniert, zeigt Varvara dann nach dem Abendessen. Erst einmal setzen sich dafür alle einen Filzhut auf. „Damit es an der Kopfhaut nicht so brennt und die Haare nicht austrocknen“, sagt die junge Russin, die in der Nähe des Baikalsees geboren wurde. Dann geht es in die Sauna: 80 Grad sind darin und die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Durch den Aufguss wird sie aber noch einmal höher, bevor die berühmten Birkenzweige zum Einsatz kommen. In heißes Wasser getaucht, wedelt Varvara damit zuerst über dem Körper, dann klopft sie damit vorsichtig auf den Rücken.

Tiefenentspannt setzt die Gruppe am nächsten Morgen die Wanderung fort. Tiere lassen sich in den drei Tagen kaum blicken. Lediglich eine Schlange huscht aufgeschreckt über den Weg. Und in der Ferne taucht eine Baikalrobbe wieder ab in die Fluten. Sie gehört zu den Tierarten, die es nur im Baikalsee gibt. Fast zwei Drittel der rund 2500 Tier- und Pflanzenarten aus der Gegend findet man nirgendwo anders auf der Welt. Ein Baikal-Tier, das in allen erdenklichen Arten zubereitet wird, ist der sogenannte Omul. Auch Varvara, die ihren Wanderern täglich ein anderes russisches Traditionsgericht kocht, hat für den Abend in der Pension im Dorf Bolshie Koty ganze Fische besorgt. Geräuchert sind sie köstlich und erinnern an eine Forelle.

Am Lagerfeuer wird Suppe gekocht und Kräutertee zubereitet

Nach zwei Tagen Wanderung wird die letzte Etappe im Kajak zurückgelegt. Es sind spezielle Kajaks, die aufgepumpt werden müssen. „Sie sind auf den Baikalsee abgestimmt“, sagt Kajak-Guide Arseni. Auf dem Wasser merkt man die Unterschiede: Man sitzt höher und stabiler darauf – wegen der Wellen, die schon mal etwas höher werden können. Heute aber ist der See ruhig und beim entspannten Paddeln bekommt man noch einmal eine neue Perspektive auf das Ufer: auf kleine Buchten, die über den Wanderweg nicht zu erreichen wären, und schmale Strände, von denen neugierige Blicke folgen und Urlauber winken. Auf das steile Ufer, an dem der Baikal-Trail in der Landschaft kaum zu erkennen ist.

Zur Halbzeit schlägt Arseni eine Rast an einem seiner Lieblingsplätze am Ufer vor. Dort macht er ein Lagerfeuer, kocht eine Hühnersuppe und sammelt Kräuter für einen Tee, einen Kurilski Tchai. „Der ist auch gut gegen Magenschmerzen und Erkältungen“, sagt der schlaksige 18-Jährige. Wenn man gesund ist, ist es einfach ein leckerer Kräutertee. Nach der langen Pause hält sich die Motivation in Grenzen, selber weiter zu paddeln. Glücklicherweise hat das Kajak einen Motor. Die kleine Gruppe tuckert entspannt bis nach Listvjanka. Es ist der bekannteste Urlaubsort und im Grunde das Touristenzentrum am Baikalsee, mit zahlreichen Pensionen und Hotels. Hier liegen die Touristen am Badestrandstreifen, essen Eis und schlendern durch den Souvenir- und den Fischmarkt. Sonntags ziehen die dichten Rauchschwaden durch den Ort, wenn die Fischer Omul räuchern. Hier ist man vollends zurück in der Zivilisation und würde trotz aller Anstrengungen am liebsten gleich noch einmal umkehren – und weiterwandern in dieser grandiosen Natur am großen Blau.

Tipps & Informationen

Individuell Der russische Reiseveranstalter Sibirien Direkt stellt individuelle Aufenthalte in Irkutsk, vor allem aber Aktivtouren am Baikalsee mit Wanderungen entlang des Great Baikal Trails oder Abstechern zur Insel Olchon zusammen. www.baikal-abenteuer.com

Pauschal Die Baikalsee-Tour ist häufig ein Zwischenstopp auf einer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn. Der Veranstalter Lernidee-Erlebnisreisen organisiert Reisen auf dem Regelzug nach individuellen Vorstellungen. www.lernidee.de; team@lernidee.de, 030-786 00 00

(Die Reise wurde unterstützt von Lernidee-Erlebnisreisen und Sibirien Direkt.)