Berlin. In vielen Familien bestimmen Kinder das Geschehen. Der Pädagoge Jesper Juul fordert, dass die Rollen sich ganz anders verteilen sollen.
Die kleine Ida will mit ihren zwei Jahren nicht im Autositz Platz nehmen, bevor sie ihre Gummibärchen zur Belohnung bekommen hat. Und die dreijährige Marla nimmt abends nach 21 Uhr noch zwischen ihren Eltern auf der Couch Platz, weil sie so gar nicht schlafen mag. In vielen Familien diktieren die Kinder ihre Bedürfnisse. Die Eltern stimmen dem oft hilflos zu.
So sieht es Jesper Juul (67). Eltern sind heutzutage auf Wohlfühlpädagogik getrimmt. Sie meinen es gut, doch bewirken für ihre Kinder das Gegenteil. „Leitwölfe sein – Liebevolle Führung in der Familie“ heißt das neue Buch des vielleicht bekanntesten Familienpsychologen Europas, in dem Juul Eltern auffordert, zu Hause wieder die Zügel in die Hand zu nehmen.
„Wir sehen heute viele Familien, in denen die Eltern große Angst haben, ihren Kindern zu schaden oder sie zu verletzen, sodass die Kinder zu Leitwölfen werden. Und die Eltern streifen orientierungslos durch den Wald“, mahnt Juul. „Die neoromantische Art von Elternsein ist eine Form von Vernachlässigung“, erklärt er dieser Zeitung. Mit Neoromantik sind die sogenannten Helikoptereltern gemeint, die ständig um ihre Kinder kreisen, sie verwöhnen, harmoniesüchtig sind oder ihr Kind aufopferungsvoll als Projekt verstehen. Eltern befinden sich in einer Führungskrise, mahnt der dänische Bestsellerautor. Generell orientiert sich der Verfasser von 25 Büchern über Erziehung und Familie gerne am Bild des Wolfsrudels, in dem jedes Mitglied gleichwertig zähle, die Wolfseltern biologisch erwiesenermaßen aber das Kommando unter sich aufteilen.
Eltern, die um jeden Preis bei ihren Kindern beliebt sein wollen
Im übertragenen Sinne lässt sich dieses Modell praktisch auf jede Alltagssituation mit Kindern wie Hausaufgaben, Jacke-Schuhe-Anziehen oder Süßigkeitenverzehr übertragen. Klare Ansagen und deren Umsetzung seien das Gebot, nicht etwa Unsicherheit oder Furcht, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ob beim Zähneputzen oder eben beim Zu-Bett-Gehen.
Konkret wird Juul bei Letzterem, dem gefühlt ewigen Zank zwischen Kindern und Eltern. Die Antwort der Erwachsenen müsse abends lauten: „Ich will nicht mit dir spielen, ich will nicht mit dir lesen. Ich will meine Ruhe haben, ich will mit deinem Vater zusammen sein. Geh in dein Zimmer.“ Wenn er so etwas sage, fragten die Eltern oft: „Aber fühlt das arme Kind sich dann nicht abgelehnt?“ Juul antwortet gelassen: „Ja, hoffentlich. Darum geht es ja.“ Die Frage, die sich die Eltern stellen müssen, sei: Ist es für mich sehr wichtig, bei meinem Kind immer beliebt zu sein? Und noch wichtiger: Welche Art von Tochter oder Sohn ziehe ich da gerade heran?
Juul formuliert es so: „Ich nehme an, dass Sie sich für Ihre Tochter wünschen, dass sie so etwa ab einem Alter von zehn oder zwölf Jahren mit gutem Gewissen Nein sagen kann.“ Und für einen Sohn gelte: „Für Ihren Sohn wäre es genauso wichtig zu lernen, dass Frauen auch Nein sagen können.“
Bereits in seinen früheren Büchern hatte Juul, dessen Werke in jeder gut sortierten Wohnzimmerschrankwand von Berlin-Prenzlauer Berg bis München-Schwabing stehen, das ständige Lob von Eltern kritisiert. „Es kommt zu einem unrealistischen Selbstbild, das später in einem schmerzvollen Prozess korrigiert werden muss“, mahnt der Pädagoge.
„Ich sehe sie als engagierte Pioniere in einem Minenfeld“
Heute hat sich der Familientherapeut aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seit Dezember 2012 leidet Juul unter einer Nervenkrankheit, ist dadurch querschnittsgelähmt. Wegen seines Luftröhrenschnitts kann er nur mit schwacher Stimme sprechen, sich aber wohl die meiste Zeit des Tages selbst versorgen – sprich kochen und schreiben. Bis zu seiner Erkrankung arbeitete der Pädagoge in neun Ländern, gründete 2004 das Elternberatungsprojekt FamilyLab International.
Die Eltern von heute hat er trotz aller Kritik übrigens nicht aufgegeben. Auf die Frage, warum die Unsicherheit bei Eltern zunehme, antwortet er hoffnungsvoll: „Ich sehe sie als engagierte mutige Pioniere in einem Minenfeld, das in kultureller und moralischer Hinsicht so belastet ist wie kein anderes.“
Jesper Juul, Leitwölfe sein: Liebevolle Führung in der Familie, Beltz-Verlag, 215 Seiten, 16,96 Euro