Essen. Mit „No Roots“ lieferte Alice Merton vor sechs Jahren einen Megahit, auch auf ihrem zweiten Album verarbeitet die Sängerin eine schwierige Zeit.
Vor sechs Jahren legte Alice Merton zum ersten Mal ihr Seelenleben musikalisch offen und lieferte mit ihrer Debütsingle „No Roots“ einen Partyhit. Ihr Song darüber, nirgendwo wirklich hinzugehören, weil sie als Kind und Jugendliche immer wieder den Wohnort wechseln musste und in vier Ländern aufwuchs, bescherte der Frankfurterin Charterfolge rund um den Globus. Mit „Hit The Ground Running“ und „Why So Serious“ festigte die 29-Jährige ihren Status als erfolgreiche Popsängerin. Jetzt ist die wurzellose Songschreiberin mit ihrem zweiten Album „S.I.D.E.S.“ auf Tour. Mit Maxi Strauch sprach Alice Merton über Erfolgsdruck und ein kurioses Hobby.
Vor Ihrer Karriere haben Sie Wirtschaftswissenschaften studiert. Wie passt denn das zur Popmusik?
Alice Merton: Ich hatte im Abitur Wirtschaft und Musik. Es hat mich tatsächlich immer interessiert. Ursprünglich wollte ich klassischen Gesang studieren. Aber bei den Aufnahmeprüfungen hat man mir gesagt, dass mein Gesang noch zu unreif wäre und dass ich noch ein paar Jahre warten sollte. Deshalb bin ich meiner zweiten Liebe nachgegangen.
Aber dann hat es Sie doch zur Musik gezogen …
Ich habe es nur eineinhalb Jahre lang studiert und dann hat ein Freund mir erzählt, dass es diese Uni in Mannheim gibt, wo man Songwriting studieren kann. Das wollte ich unbedingt ausprobieren. Ich habe dann, eher aus Spaß, ein paar Songs von mir hingeschickt und dann wurde ich zur Aufnahmeprüfung eingeladen und genommen. Da habe ich beschlossen, wenn ich das Wirtschaftsstudium abbreche, muss ich alles dafür geben, dass das mit der Musik funktioniert.
Sie haben ein eigenes Label gegründet und darüber auch Ihr erstes Album „Mint“ herausgebracht. War es Ihnen wichtig, von Anfang an alles selbst in der Hand zu haben?
Einerseits das, andererseits gab es ehrlich gesagt nicht so viele Plattenfirmen, die mich unter Vertrag nehmen wollten. Die haben nicht an meine Musik geglaubt und deshalb war es auch eine Notlösung.
Jetzt ist Ihr zweites Album „S.I.D.E.S.“ auf dem Markt. Was war Ihnen da wichtig?
Beim zweiten Album war mir wichtig, dass ich all das, was ich in den letzten zwei Jahren durch die Pandemie gefühlt habe, durch die Musik verarbeite und das mit Leuten teilen kann. Es ging mir nicht darum, den nächsten Hit zu kreieren. Es war eher so: Mir geht’s nicht gut, mir ist was passiert, und das muss ich jetzt irgendwie verdauen. Ich will meine Gefühle mitteilen und ich weiß nicht, wie das ankommt. Aber dieses Album hat mir echt ein bisschen geholfen und mich auf viele Arten und Weisen gerettet.
Haben Sie sich unter Druck gesetzt gefühlt, wieder Hits schreiben zu müssen?
Das hatte ich eher beim ersten Album. Wir hatten vorher eine EP rausgebracht, die viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Und dann hatte ich sehr viel Stress beim Album, weil ich dachte, wenn das Album nicht gut wird, dann war alles umsonst. Bei „S.I.D.E.S.“ nicht, weil sich eben auch die Welt an sich so verändert hat, so dass ich dachte, eigentlich kann ich gerade gar keine Musik machen, aber ich versuche es trotzdem und gebe einfach mein Bestes. Das hat mich entspannt.
Es ist ein Album mit sehr schwermütigen Songs geworden. Was ist passiert?
Ich hatte einfach eine sehr schwierige Zeit in den letzten beiden Jahren, so wie ganz viele andere Leute auch. Ich habe aufgehört mit jemandem zu arbeiten, der für mich toxisch war bzw. sehr viel Kontrolle wollte und mir immer das Gefühl gegeben hat, dass ich von dieser Person abhängig bin. Das ist eine sehr ungesunde Art zu arbeiten. Vor allem habe ich sehr viel gelernt über das Frausein in der Industrie, dass man sich manchmal gar nicht traut Sachen zu machen, weil man eingeredet bekommt, die anderen wissen das eh besser.
Braucht man als Frau in der Musikindustrie mehr Mut?
Mut braucht man sowieso, aber als Frau noch mehr. Es ist eine sehr männerdominierte Industrie. Mir wurde schon gesagt: „Ich weiß schon, was das Beste für dich ist.“ Oder: „Kleine, ich mache das schon für dich.“ Mir wurden Dinge gesagt, die ein männlicher Künstler wohl nicht hören würde. Und das hat mich sehr aufgeregt. Ich habe lange über diese Rollenverteilung nachgedacht und darüber, wie oft nicht auf Augenhöhe kommuniziert wird. Ich versuche seitdem, meinen eigenen Weg zu gehen und mich dagegen zu wehren.
Die Songs auf Ihrem neuen Album sind wieder sehr autobiografisch. Haben Sie Sorge, manchmal zu viel von sich preiszugeben?
Ich glaube, ich bin trotzdem sehr gut darin, mein Privatleben privat zu halten. Aber ich finde es wichtig, dass man persönliche Sachen teilt, weil ich weiß, dass es auch andere Leute da draußen gibt, die sich ähnlich fühlen. Sie sollen wissen, dass sie nicht allein sind. Ich finde es wichtig, Stärke in Schwäche zu zeigen.
„No Roots“ ist auch sehr persönlich und hat einen ernsten Hintergrund. Ist es nicht merkwürdig für Sie, dass andere den Song auf Partys hören und sozusagen auf Ihrem Seelenleben herumtanzen?
Ich finde es total schön, dass ein Song Menschen berühren kann, es gibt nichts Besseres. Es ist magisch, wenn das passiert. Und wenn ich das mit Lyrics und Melodien machen kann, dann freut mich das sehr. Man kann eben auch zu ernsten Themen tanzen.
Apropos „No Roots“. Sie sind viel von Ort zu Ort gereist. Stimmt es, dass Sie überall etwas von sich zurückgelassen haben?
Ja, das stimmt tatsächlich. Ich habe überall kleine Zeitkapseln gelassen oder irgendwo meinen Namen reingeritzt. Ich wollte einfach kleine Erinnerungen von mir dalassen. Man sagt ja: Wenn man irgendwas an einem Ort vergessen hat, dann kommt man wieder, um es zu finden.
Was war das Kurioseste, dass Sie zurückgelassen haben?
Ein paar Haare wahrscheinlich (lacht). Die habe ich abgeschnitten und dann vergraben. Oder meine Schneckensammlung …
Sie sammeln Schnecken?
Ja, ich habe sie gesammelt und dann Häuser für sie gebaut. Ich habe ein großes Aquarium gefunden und die Schnecken darein gelegt. Und dann habe ich ihnen ein Haus zum Beispiel aus Blättern gebaut.
Und haben Sie auch ein Schneckenhaus, in das Sie sich zurückziehen können? Ein Ort, der ein bisschen mehr „zu Hause“ ist als andere?
In Kanada fühle ich mich sehr zu Hause, in der Nähe von Toronto, aber auch in Berlin, in München und in London. Also es gibt schon einige Städte, in die ich zurückkehre und denke: Wow, das ist nach Hause kommen. Das ist dann ein bestimmtes Gefühl, das ich habe. Wenn ich bestimmte Sachen wiedersehe oder ein Geruch, typisches Essen oder einfach die Leute, die dort wohnen.
Zurück zu Ihrem neuen Album. Das letzte Lied „The Other Side“ hat etwas von Aufbruchstimmung. Was hat es damit auf sich?
Ich war in England letztes Jahr und habe dieses Lied dort geschrieben. Das war das erste Mal, dass ich näher an meiner Familie war, weil ich seit zehn Jahren in einem anderen Land wohne als meine Familie. Und da hatte ich das Gefühl, dass es mir einfach langsam besser geht, dass die Pandemie ein bisschen besser geworden ist … Und da habe ich beschlossen, dass ich auf jeden Fall nach London ziehen möchte. Und dann habe ich es einfach getan, ohne groß darüber nachzudenken.
Geht es Ihnen denn jetzt besser?
Ich glaube, es kommt einfach eine Zeit, in der man endlich auf „The Other Side“ ist. Und das war mir wichtig: Zu wissen, irgendwann wird’s auch besser, es wird mir besser gehen, ich werde mich nicht immer verloren fühlen, sondern auch irgendwann die Sonne wiedersehen. Aber ich muss einfach geduldig sein und abwarten. Jetzt gerade freuen wir uns, dass wir diese Tour machen können. Das wissen wir alle zu schätzen, dass es möglich ist.
„The Other Side“ beschreiben Sie auch als ein neues Kapitel, das Sie jetzt aufschlagen. Was liegt denn an?
Das kann ich noch nicht verraten, aber es kommt sehr bald etwas sehr schönes, was Spaß macht und einfach eine schöne Zeit bereitet.
Alice Merton – S.I.D.E.S. Tour, 11.11. Dortmund (20 Uhr, FZW), 13.11. Köln (20 Uhr, Live Music Hall). Tickets gibt’s ab ca. 34 €.