Essen. Die Abschiedstour von Sunrise Avenue treibt Sänger Samu Haber die Tränen in die Augen, wie er im Interview verriet.

Ein bisschen erschöpft sieht Samu Haber aus, als er die Kamera seines Laptops einschaltet und sich durchs kinnlange Haar fährt. Hinter dem Sunrise-Avenue-Frontmann liegt ein Tag voller Interviews. Jeder möchte nochmal mit dem 46-Jährigen sprechen, bevor nach der Abschiedstour der finnischen Rockband endgültig der letzte Vorhang fällt. Nach einer erfolgreichen Karriere mit Songs wie „Fairytale Gone Bad“ und „Hollywood Hills“ ist nun Schluss. Warum die Entscheidung Samu Haber so schwer gefallen ist, wie tränenreich der Abschied wirklich ist und was überhaupt danach kommt, darüber sprach er mit Kirsten Gnoth.

Die „Thank You For Everything“-Tour musste ein paar Mal verschoben werden. Hat das nicht genervt?

Samu Haber: Für uns war es ehrlich gesagt nicht so schlimm. Ich habe eher an alle Leute gedacht, die die Pandemie wirklich schlimm getroffen hat: ältere Leute, kleine Kinder, alleinerziehende Eltern, Restaurantbesitzer und und und ... Natürlich war es für uns auch ein schmerzlicher Moment, die Tour immer wieder verschieben zu müssen, aber wir wussten, dass es irgendwann passiert.

Haben Sie in dieser Pause jemals darüber nachgedacht, doch keine getrennten Wege zu gehen?

Ich wusste, dass wir so lange zusammenbleiben, bis wir jedes Abschiedskonzert gespielt haben. Aber ich habe nie darüber nachgedacht, meine Entscheidung zu ändern.

Wie war es, für die Abschiedstour nun wieder mit der Band zusammen zu kommen?

Es war natürlich ein bisschen seltsam. Ich habe alle zusammen als Band seit zwei Jahren nicht gesehen und ich war ziemlich nervös, wieder gemeinsam auf die Bühne zu gehen. Gleichzeitig war es aber auch schön, sie wiederzusehen – sogar schöner als jemals zuvor. Es hat sich außerdem befreit angefühlt. Es geht bei der Tour einfach darum, die Show zu genießen und nochmal in die Gesichter der Menschen zu sehen und ihre Freude zu erkennen. Wir müssen dieses Mal nichts promoten oder so.

Wie ist die Stimmung in der Band?

Die ist gut, wirklich gut. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn die Pandemie nicht dazwischengefunkt hätte. Wir hätten die Auflösung verkündet, wären direkt in die Tour-Vorbereitungen gestartet und dann schließlich getourt. Vielleicht wären die Gefühle dann anders gewesen – aber das kann ich natürlich nur vermuten. Nun fühlt es sich gut an, wieder auf der Bühne zu stehen. Wie gesagt, es ist freier und wir müssen nicht über die nächsten Schritte nachdenken. Man schätzt die Momente auf der Bühne auch mehr – weil es eben die letzten sind. Es fühlt sich einfach richtig an und besser als je zuvor.

Sie haben schon in der Schweiz, Österreich und ihrer Heimat Finnland gespielt. Wie waren die Emotionen auf der Bühne?

Aus irgendeinem Grund fühlen sich die Songs bedeutungsvoller an. Seit zwei Jahren gab es keine neuen Songs mehr, also es sind alles Songs, die wir schon für eine lange Zeit spielen. Aber ich habe tatsächlich ein paar Mal innegehalten und darauf gehorcht, was ich singe. Natürlich sind die Konzerte sehr emotional. Ich glaube, es gab kein einziges Konzert, bei dem ich keine Tränen in den Augen hatte. Bei vielen anderen Leuten war es ähnlich, aber dennoch ist es wundervoll. Es fühlt sich trotzdem jeden Abend leicht an, auf der Bühne zu stehen. Das ist tatsächlich eine völlig neue Erfahrung, die ist toll.

Sie haben Sunrise Avenue vor 20 Jahren gegründet. Haben Sie jemals daran gedacht, dass es irgendwann eine Abschiedstour geben wird?

Ich habe mit 16 Jahren die Band Sunrise gegründet und vor 20 Jahren den Namen in Sunrise Avenue geändert. Nach und nach kamen die Bandmitglieder dazu, die es bis heute gibt. Es hat sich ein bisschen nach einer Hochzeit angefühlt: „Bis dass der Tod uns scheidet“. Ich denke nicht, dass viele Paare schon in ihrer Hochzeitsnacht darüber nachdenken, sich morgen wieder scheiden zu lassen. Und so haben wir natürlich am Anfang auch nie darüber nachgedacht aufzuhören.

Aber dann kamen diese Gedanken doch.

Mit Sunrise Avenue sind wir immer dem gefolgt, was unser Herz gesagt hat und das war nun auch so. Die Welt um uns herum hat sich verändert und auch wir als Menschen haben uns verändert. Es kam der Moment, an dem wir verstanden haben, dass wir weiterziehen müssen. Auch, weil wir nur ein Leben haben. Es wäre furchtbar, nur zusammenzubleiben, weil man Angst vor dem hat, was danach kommt. Wir mussten einfach das tun, was sich für uns richtig angefühlt hat – auch, wenn andere es vielleicht nicht verstehen.

Wie schwierig war es für Sie zu verstehen, dass das der richtige Schritt ist?

Es war ziemlich schwer. Es war auf eine Art schwieriger, als mit dem Partner Schluss zu machen. Mein Herz und meine Seele hatten mir schon länger Nachrichten geschickt, aber ich habe sie gerade am Anfang geleugnet. Dann habe ich mit Freunden gesprochen, denen ich wirklich vertraue. Ich habe dann sogar eine Therapie angefangen und auch dort über meine Gedanken gesprochen. Viele haben mich für verrückt gehalten, das aufgeben zu wollen.

Was haben sie zu Ihnen gesagt?

Sie sagten, ich sei müde und bräuchte einfach eine Pause. Aber wir haben Pausen gemacht und die Gedanken sind nie verschwunden. Irgendwann sind diese Stimmen in mir so laut geworden, dass ich sie nicht mehr wegschieben konnte. Selbst auf der Bühne vor 50.000 jubelnden Menschen waren sie noch deutlich zu hören. Spätestens in dem Moment musste ich das akzeptieren. Es war ein langer Prozess, aber mittlerweile fühle ich mich einfach nur frei und glücklich.

Spulen wir die Zeit vorwärts: Was würden Sie ihren Enkelkindern über Sunrise Avenue erzählen?

Ich würde ihnen erzählen, dass ihr Opa den Traum von einer Rockband hatte und anfing, Songs zu schreiben. (Hält kurz inne) Hm, wenn ich es mir so recht überlege, würde ich ihnen vermutlich gar nichts erzählen, ich würde ihnen einfach die ganzen Songs vorspielen (lacht). Aber natürlich gab es noch viele andere tolle Dinge in meinen Leben – all die vielen Menschen, die ich kennenlernen und alle die vielen Geschichten, die ich hören durfte.

So ein Rockstar-Opa ist schon cool.

Ein Rockstar zu sein, ist wirklich toll. Es ist ein großes Abenteuer und man wächst daran. Aber auf dieser Welt gibt es so viele Helden, die nie einen Grammy, Oscar oder Platinauszeichnungen bekommen haben.

Obwohl Sie das Rockstar-Dasein mit Sunrise Avenue an den Nagel hängen, geben Sie die Musik dennoch nicht komplett auf. Sie veröffentlichen nun Songs auf Finnisch. Wie kam das?

Eigentlich habe ich „Enkelten kaupunki“ für jemand anderes geschrieben. Das mache ich ständig. Aber irgendwie hatte ich starke Gefühle für diesen Song. Aus einem Song wurden mehrere. Es war eine verrückte Zeit, weil wir kurz vor der Pressekonferenz zur Auflösung von Sunrise Avenue standen. Ich habe mich mit einem Freund getroffen, der auch Producer ist und ich haben ihm die Songs vorgespielt. Er sagte: „Das ist großartig. Wir müssen das einfach machen.“

Wie ist es plötzlich, Songs in Ihrer Muttersprache zu schreiben? Sie veröffentlichen ja sogar ein ganzes Album auf Finnisch.

Es fühlt sich richtig gut an. Auch vielleicht weil es so weit weg von dem ist, was ich bisher gemacht habe. Nach dem Ende der Abschiedstour habe ich 13 Tage Pause und dann geht es mit den neuen Shows los. Ich spiele in richtig kleinen Venues.

Wird es schwierig, von den großen Hallen in die kleinen Clubs zu gehen?

Ehrlich gesagt mag ich das viel lieber. Natürlich ist es cool, vor 70.000 Leuten in einem großen Stadion zu spielen. Das schmeichelt dem Ego schon (lacht). Aber es ist schöner, vor 700 oder 800 Menschen zu spielen und wirklich jeden sehen zu können. Man kann sogar ins Publikum gehen und die Menschen berühren. Wer mit mir auf der Bühne stehen wird, weiß ich noch gar nicht. Mal sehen. Vielleicht ein paar Freunde von mir.

Das klingt so, als würden Sie gerade einfach mit dem Flow gehen.

Ja, absolut. Momentan fühlt sich das Treibenlassen einfach gut an.

Neben Ihrer eigenen Musik managen Sie auch Nachwuchskünstler. Wonach suchen Sie?

Nach nichts Bestimmten. Die Leute kommen einfach zu uns und wir helfen ihnen, wo wir können. Ich fühle mich geehrt, dass sie mich in ihre Gedanken und Projekte lassen. Manche Künstler sind jünger als ich und andere sind älter. Ich kann so viel von ihnen lernen und sie können auch von mir lernen.

Welchen Rat geben Sie den Künstlern und Künstlerinnen?

Höre jedem zu, aber höre auf niemanden. Folge deinem Herzen und alles, was sich für dich gut anfühlt, ist richtig. Es gibt nicht die eine Weisheit da draußen, die dich in Sicherheit wiegt und dir Freiheit gibt. Also wag einfach den Sprung und wenn sich das besser für dich anfühlt, mach deine Augen dabei zu. Es macht mehr Spaß, mit geschlossenen Augen zu fallen (lacht).

Thank You For Everything: 23.8. Köln (Lanxess Arena, wenige Einzelplätze und Stehplätze), 18.9. Düsseldorf (PSD Bank Dome, Logenplätze ab ca. 223).