Essen. Bis der Sprung in die Menge wieder geht, wird es noch etwas dauern. Im Interview verrät er, worauf er sich noch in der Konzertsaison freut.
Tilmann Otto aus Osnabrück hat sich vor 20 Jahren dem Reggae verschrieben. Und sich einen passenden Künstlernamen ausgesucht: Gentleman. Der klingt nicht nur mehr nach Reggae, sondern passt wie die Faust aufs Auge. Skandalfrei lebt der 47-jährige mit seiner Familie in Köln. Von dort aus dem Garten ruft er auch an diesem sonnigen Tag an. Gut gelaunt spricht Gentleman mit Kirsten Gnoth über seinen Bammel vor der Album-Veröffentlichung, dem Spagat zwischen Tourleben und Familie und dem Leben in einem diffusen Niemandsland.
Ihr aktuelles Album „Blaue Stunde” versprüht viele positive Vibes. Woher kommt diese Einstellung?
Tilmann Otto: Es freut mich, dass es den Eindruck macht. Ich habe aber natürlich auch meine nicht ganz so hellen Momente auf dem Album verarbeitet. Das, was durchkommt, ist das Positive. Und das ist auch gar nicht so abwegig. Ich bin jemand, der am Ende des Tages doch an das Gute glaubt und an die Kraft, die alles zusammenhält. Ich gehe schon positiv durchs Leben und hatte Glück, die richtigen Menschen zu treffen und mein Hobby zum Beruf machen zu können. Ich bin ein sehr dankbarer Mensch.
Haben Sie Tipps für Menschen, die weniger positiv gestimmt sind?
Es sind so ganz einfache Sachen. Es fängt bei Gewohnheiten an. Jeder hat schlechte und gute Gewohnheiten. Wenn man ein Prozent seiner schlechten Gewohnheiten zu guten Gewohnheiten umkehrt, macht es schon einen Unterschied. Das Problem ist auch: Wenn man in einem Loch ist, sieht man die positiven Dinge drumherum meist nicht. Man sollte immer versuchen, offen zu bleiben. Mich inspiriert es, mich mit verschiedenen Menschen oder Kulturen auseinander zu setzen. Dann ist es eine Sache der Zeit, bis sich ein anderer Geist bemerkbar macht.
Sie wirken sehr entspannt: Stichwort Entschleunigung. Sind Sie ein Verfechter davon?
Ich will gar nicht immer entschleunigen, sondern auch mal Vollgas geben. Der Wechsel macht es aus und die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Entschleunigung ist zwar ein Modewort geworden, aber es ist auch ein schönes Wort. In einer Zeit, in der alles rasend schnell passiert und wir von Eindrücken fast erstickt werden, ist da immer eine gewisse Sehnsucht nach Entschleunigung. Ich denke, der Mensch hatte schon immer den Wunsch nach Ruhe, wenn alles andere zu viel wurde. Andersherum – wenn die Ruhe zu viel wird, braucht man Action.
Wo können Sie persönlich am besten zur Ruhe kommen?
Am Wasser. Ich habe ein Boot und bin gerne damit am Rhein. Wenn ich auf fließendes Wasser gucke, bin ich inspiriert und kann Gedanken zu Ende führen. Im bin im wahrsten Sinne des Wortes im Fluss. Bei mir funktioniert Natur immer – auch wenn ich mit meinem Hund im Wald spazieren gehe. Da kann ich Pläne schmieden, Gedanken fassen und mich selbst reflektieren.
Ich höre im Hintergrund Vögel zwitschern. Sind Sie etwa gerade in Ihrem Garten?
Ja, genau.
Dem haben Sie ja ebenfalls ein eigenes Lied gewidmet. Haben Sie eher den grünen Daumen oder ihre Frau?
Die noch weniger als ich (lacht). Ich habe immer mal so Tage, an denen glaube ich, dass ich jetzt endlich einen grünen Daumen bekomme. Aber so ganz hat sich das nicht reingeschlichen. Wir wohnen direkt an einem Wald und haben auch den Garten recht wild und naturbelassen. Das passt dann wieder. Einfach wachsen lassen und genießen.
Das Album trägt den Titel „Blaue Stunde”. Was steckt dahinter?
Viele Dichter und Denker haben über die Blaue Stunde geschrieben. Es ist zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Außerdem ist es nicht mehr so richtig Tag, aber auch noch keine Nacht. Es ist irgendwie ein Niemandsland, ein diffuser Raum. Da bin ich immer schon drin gewesen und ich denke, es können sich auch viele andere damit identifizieren. Das Alte ist noch nicht abgebrochen, aber man riecht schon das Neue. Oder man ist im Urlaub und will nach Hause. Zu Hause angekommen, will man dann wieder in den Urlaub. Es gibt immer diesen Zwischenraum. Aber in dem entsteht vieles – weil es eben kein Ende und keinen Anfang gibt. Die Zerrissenheit zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Album.
Sind Sie eher ein Nacht- oder Morgenmensch?
Ich bin tatsächlich beides. Nachts habe ich meine Ruhe. Der Hund bellt nicht, es klingelt nicht, alle schlafen – da kann ich am Kreativsten sein. Eigentlich schlafe ich mit meiner Tochter immer so um acht ein, wache dann aber um ein Uhr wieder auf, bin manchmal bis um fünf wach und arbeite in der Zeit. Um sieben stehe ich dann wieder auf und mache manchmal einen Power-Nap am Tag.
Auf „Blaue Stunde” singen Sie auch das erste Mal auf Deutsch. Wie kam es dazu?
Den Wunsch gibt es schon jahrelang. Aber ich habe nie den Punkt gefunden, damit anzufangen. Und dann kam „Sing meinen Song” 2017. Das war für mich die ausschlaggebende Erfahrung, um einfach mal anzufangen. Das Feedback auf meine Version von Mark Forsters Song „Ich trink auf dich” war super. Auch für mich hat es sich vertraut angefühlt. Plötzlich war die deutsche Sprache kein Fremdkörper mehr. Ich habe mich dann einfach hingesetzt und geguckt, was passiert. Ich habe das Ganze aber unterschätzt. Es war ein Neuanfang bei Null. Es ist eine ganz andere Art und Weise, als auf Englisch zu schreiben. Ich wollte aber auch mal hier verstanden werden, was meine Texte angeht.
Haben Sie Patwa nun etwa ganz den Rücken gekehrt?
Nein, nein, nein. Ich werde jetzt nicht anfangen, nur auf Deutsch zu singen. Ich werde das davon anhängig machen, wie ich mich fühle und an wen ich beim Schreiben denke. Aber ich denke, dass es nur mal als ein kurzer Ausflug war. Dennoch arbeite ich momentan auch schon wieder an einem englischen Album. Auf Englisch zu singen, hat mir beispielsweise auch eine Tour in Südafrika ermöglicht. Das wäre mit deutschsprachiger Musik eher schwierig gewesen. Aber ich versuche auch in meinem Patwa immer so englisch wie möglich zu singen, damit die Leute es verstehen.
Hatten Sie Bammel vor der Veröffentlichung?
Ja, volle Möhre. Ich hatte die ganze Zeit Bammel. Es war ein Wechselbad der Gefühle. In einem Moment war ich voll davon überzeugt und in einem anderen wurde ich von Zweifeln überrannt. Ich habe gedacht, dass ich viele Menschen mit diesem Album verliere. Solche blöden Gedanken haben sich zum Glück nicht lange gehalten, weil ich doch auf mein Gefühl gehört habe. Es war etwas, das ich unbedingt machen wollte und das macht es ehrlich. Wichtig ist, dass man es selbst fühlt.
Ist es Ihnen schwergefallen, auf Deutsch zu texten?
Wesentlich schwerer als auf Englisch. Es schleicht sich der Gedanke ein, dass plötzlich jedes Wort verstanden wird. Das habe ich im Englischen zwar auch, aber nicht hierzulande. Hier hatte ich immer den Exoten-Bonus: ‘Ey, das ist der Reggae-Man, wir fühlen den Vibe, aber die Texte verstehen wir nicht.’ Und plötzlich hören die Leute genau hin, was ich denn da sage. Mit dem Wissen im Hinterkopf habe ich beim Schreiben viel mehr nachgedacht und auch Sachen zerdacht. Im Englischen drehe ich nicht alles noch zigmal rum. Auf Deutsch zu texten, war viel mehr Frickelarbeit.
Jamaika war immer so etwas wie Ihre zweite Heimat. Wie lange konnten Sie nun schon nicht mehr auf die Insel?
Ich war tatsächlich fast drei Jahre nicht da.
Was vermissen Sie an Jamaika?
Die Lebensfreude und die Energie. Aber auch das Wetter und das Essen (lacht). Ich vermisse viele Freunde und Familie da. Aber trotzdem bin ich auch gerne zu Hause. Ich bin ja eh mehr in Köln als ich in Jamaika bin -- früher war das mal anders, aber familiär bedingt hat es sich geändert und das fühlt sich auch völlig ok an.
Gibt es denn Parallelen zwischen Köln und Jamaika?
Was die Rheinländer-Mentalität angeht, gibt es viele Ähnlichkeiten. Beides ist sehr direkt. Ich weiß immer, wo ich bei den Leuten dran bin. In unseren Breitengraden ist das nicht selbstverständlich. Musik spielt hier auch eine große Rolle. Aber dennoch ist es eine ganz andere Kultur. Allerdings ist das, was uns verbindet, viel stärker als das, was uns trennt. Hoffnungen, Humor, Ängste.
Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Familie und Tourleben?
Och, noch gar nicht so. Ich hatte das Glück, dass meine Frau Backgroundsängerin in meiner Band ist – wir waren dann gemeinsam mit unserer Tochter unterwegs. Jetzt geht meine Tochter in die Schule und wir können nicht mehr so einfach sechs Wochen auf Tour gehen. Auch im Kindergarten war das manchmal schon schwierig. Wenn das Touren jetzt los geht, kann sie nicht mit und das ist auf jeden Fall ein Thema, was ich vorher gar nicht so auf dem Schirm hatte. Jetzt in der Pandemie haben wir uns so aneinander gewöhnt. Ich habe noch nie so viel Zeit mit meiner Familie am Stück verbracht wie jetzt. Es wird nicht einfach.
Sie spielen dieses Jahr eine Freiluft-Show in Lennestadt-Elspe. Das ist erstmal gar nicht so weit weg von zu Hause.
Genau, die Picknick- und Strandkorbkonzerte sind meist am Wochenende. Da können auch alle mit. Gedanklich war ich aber schon bei den Touren, bei denen man 200 Tage im Jahr weg ist (lacht).
Mit welchen Gefühlen blicken Sie der kommenden Konzert-Saison entgegen?
Ich kann es noch gar nicht glauben. Nicht falsch verstehen, die Konzerte werden stattfinden. Aber es sind natürlich andere Bedingungen als bei so einem Summerjam-Festival. Aber ich habe dennoch eine unglaubliche Vorfreude. Ich habe mir lange den Moment vorgestellt, wenn ich das erste Mal wieder auf die Bühne gehe und Menschen vor mir sehe. Da wird es eine Explosion der Lebensfreude geben.
Kommt da Nervosität auf?
Die kommt bei mir immer auf. Aber ich kenne sie mittlerweile und kann ganz gut mit ihr umgehen. Du fängst bei jedem Konzert bei null an – gerade, wenn du auf Festivals spielst. Da kommen die Leute nicht explizit nur wegen dir. Du musst sie immer wieder von dir überzeugen. Das Schöne ist, wenn es dann mal rollt, dauert es nur fünf Minuten. Ich bin vor der Bühne immer aufgeregter als dann auf der Bühne. Aber jetzt ist das sicher noch mal verstärkt, weil ich lange nicht mehr gespielt habe. Wir sind seit ‘99 eigentlich mehr oder weniger durchgetourt.
Da ist die Pause jetzt sicher schwergefallen?
Ja, aber ich habe auch positive Sachen rausgezogen und ganz viele Songs rausgehauen. Das hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht, wenn ich getourt wäre.
Was macht für Sie ein perfektes Konzert aus?
Wenn sich die Menschen wieder in den Armen liegen können, ohne sich anzustecken. Und wenn ich endlich wieder Stagediven kann (lacht). Ich muss immer ins Publikum gehen.
Bei welchem Konzert haben Sie sich zuletzt als Zuschauer besonders wohlgefühlt?
Ich glaube, das letzte Mal war Tracy Chapman. Da habe ich gemerkt, dass eine Seligkeit und Intimität herrschten. Sie mit ihrer Klampfe auf einem Barhocker – ganz unaufgeplustert. Aber auch das letzte Summer Jam war toll. Es stand ein unfassbarer Act nach dem anderen auf der Bühne. Aber ich habe schon so viele tolle Konzerte gesehen.
Sie machen seit 20 Jahren Reggae. Welche Klischees über das Genre nerven Sie heute noch?
Ich glaube, die nerven mich gar nicht mehr. Aber die gängigen Klischees sind natürlich, dass alle nur barfuß rumlaufen und immer einen Joint in der Fresse haben. Auch, dass Rastafari keine spirituelle Bewegung ist, sondern ein Hype. Ein Klischee ist es auch, dass bei Bob Marley immer alles easy peasy war. Ich glaube aber, dass man mit Klischees immer Leben muss.
Was steckt für Sie hinter Reggae?
Für mich hat es etwas Magisches und Meditatives. Allein, was den Sound angeht. Die Mischung zwischen Drums und Bass. Dieses Meditative, Treibende finde ich in keinem anderen Genre. Außerdem ist Reggae gespickt mit Menschen, die anderen Menschen durch ihre Texte eine Stimme gegeben haben. Ich habe gemerkt, dass diese Musikrichtung über das Unterhaltende hinaus geht. Die Botschaften dahinter sind politisch, traurig, aber auch witzig. Viele Texte haben eine Zeitlosigkeit und Genialität, die ich selten sehe. Ich bin einfach nicht müde vom Reggae. Das Klischee – und da sind wir wieder – dass alles so eintönig ist, stimmt einfach nicht. Es ist unglaublich vielfältig.
Sind Sie auch offen für Neues?
Absolut. Ich mache ständig Neues – und das erlaubt der Reggae auch, eben weil er so vielfältig ist. Ich habe zum Beispiel schon mit Udo Lindenberg gespielt, mag Hip-Hop-Beats total gerne und habe schon mit den Toten Hosen Musik gemacht. Aber trotzdem finde ich immer wieder zum Reggae zurück. Es ist meine erste und vermutlich auch meine letzte Liebe.
Open-Air: 26.8., 20 Uhr, SparkassenPark, Mönchengladbach. 11.9., 20 Uhr (Einlass 18.30 Uhr), große Naturbühne, Lennestadt-Elspe.
„Blaue Stunde“-Tour: 5.11. Münster (Halle Münsterland), 23.11. Köln (Palladium). Infos: www.gentleman-music.com