Berlin. „Armand“ ist das starke Regiedebüt des Bergman-Enkels Halvdar Ullmann Tondel - und geht nun als Norwegens Kandidat ins Oscar-Rennen.
Fehlalarm. Immer wieder geht der Feuermelder grundlos los. Was sich einfach nicht reparieren lässt. Aber das ist natürlich eine schreiende Metapher in diesem Film. Denn von Anfang an wird in „Armand“ deutlich, dass es doch brennt. Und wie!
Gleich anfangs rast ein Auto dröhnend zur Schule, rennt eine Frau mit klackernden Schuhen über einen langen, hallenden Flur. Doch die junge Lehrerin (Thea Lambrechts Vaulen) will Elisabeth (Renate Reinsve) nicht nicht gleich verraten, weshalb sie sie hierher bestellt hat. Nicht, bevor die Eltern eines anderen Jungen da sind. Erst dann enthüllt sie der Mutter – und den Zuschauern –, worum es geht: Ihr sechsjähriger Sohn Armand soll seinen Mitschüler Jon auf der Toilette belästigt, bedroht und verletzt haben. Niemand weiß, was genau passiert ist, aber „der Vorfall“ wird sehr ernst genommen, es ist gar von einer „sexuellen Abweichung“ die Rede.
Ein klaustrophobisches Kammerspiel mit nur wenigen Figuren in einem engem Raum
Elisabeth kann erst nicht fassen, was sie da hört. Glaubt erst noch an Doktorspiele. Und der Fall, das zeigt sich blad, ist auch komplizierter: Denn Jon ist nicht irgendein Mitschüler, sondern der Sohn ihrer Schwägerin Sarah (Ellen Dorrit Petersen), der Schwester ihres kürzlich verstorbenen Mannes. Und hat sich Elisabeth nicht oft auch um Jon gekümmert, wenn seine Eltern wieder lange arbeiten mussten?
Aber Sarah glaubt fest daran, was Jon ihr erzählt hat. Und ist auch sonst gegen ihre Schwägerin eingenommen. Wegen deren freizügigen Verhaltens. Und was den dubiosen Unfalltod ihres Bruders angeht. Kommt hinzu, dass Elisabeth auch noch Schauspielerin ist. Muss sie nicht immer im Mittelpunkt stehen und aus allem ein Drama machen?
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„Armand“ ist ein klaustrophobisches Kammerspiel, das an einem einzigen Ort spielt, einer Schule an einem heißen Nachmittag, als die Schüler schon weg sind, mit drei Elternteilen und bald auch drei Lehrkörpern: Neben der unerfahrenen Nachwuchslehrerin, die anfangs mit dem Fall allein gelassen wird, sitzen bald auch eine ältere Kollegin (Vera Veljovic) und der Direktor (Øystein Røge). Und sie alle halten eine Art Tribunal ab über die junge Mutter. Die irgendwann einen Nervenzusammenbruch erleidet. Was für eine Szene: Ein nicht enden wollender Lachanfall, der schließlich in ein verzweifeltes Weinen kippt. Aber für Sarah ist auch das nur wieder ein Beweis: noch so ein Schmierentheater, mit dem Elisabeth sich in Szene setzt und alle manipuliert.
Ein ganz starkes Regiedebüt, das gleich für Norwegen ins Oscar-Rennen geht
Der erst 34-jährige Halfdan Ullmann Tøndel legt hier ein ganz starkes Regiedebüt vor, das seine Premiere gleich auf dem Filmfestival in Cannes erlebte. Dort gewann er auch den Nachwuchspreis Caméra d’Or, beim Europäischen Filmpreis den Discovery-Preis. Und jetzt ist er Norwegens Kandidat im Oscar-Rennen um den besten ausländischen Film. Schnell wurde „Armand“ als „das norwegische ,Lehrerzimmer’“ etikettiert, als Skandinaviens Antwort auf den deutschen Erfolgsfilm von Ilker Çatak. Eine falsche Fährte. Denn um Lehrer geht es nur am Rande, und die sind alle, nicht nur die Nachwuchskraft, sichtlich überfordert mit der Situation.
Auch der ursprüngliche deutsche Titel „Elternabend“ – den der Verleih dann bald wieder gegen den Originaltitel tauschte – führt in die Irre. Einen solchen gibt es zwar auch, in einem anderen Stockwerk, und da wird der Fall auch breit diskutiert, auch wenn keiner Bescheid weiß. Aber tatsächlich geht es in „Armand“ um eine junge , alleinerziehende Mutter, die plötzlich im Kreuzfeuer der Kritik steht. Nicht nur wegen ihres Jungen, sondern auch wegen ihres eigenen unangepassten Lebensstils. Und weil sie sich nicht wie eine „normale Witwe“ verhält. Ein Drama um Spekulation und Zwietracht, um Vorurteile und Vorverurteilung, die eine ganz eigene Dynamik entwickeln, bei der es am Ende gar nicht mehr wichtig scheint, was wahr ist.
Der Zuschauer weiß lange nicht mehr als die Mutter. Weiß auch lange nicht, was er von dieser taffen, gar nicht trauernden Frau halten soll. Man sieht sich gezwungen, den Fall aktiv und hochkonzentriert zu verfolgen. Denn alle scheinen hier Rollen zu spielen. Und am Ende fallen alle Fassaden. Wie auch der Putz von der maroden Schule bröckelt.
Ullmann Tøndel tritt ein schweres Erbe an. Denn er ist der Enkel des legendären Filmemachers Ingmar Bergman und der nicht weniger legendären Schauspielerin Liv Ullmann. Sollte man sich da nicht besser in einer anderen Branche umtun? Aber nein! Mutig hat der 34-Jährige hier ein verstörendes Drama geschrieben und ebenso verstörend inszeniert. Stilsicher entwickelt er eine zunehmend beklemmende Atmosphäre. Und wechselt immer mal wieder, wenn Worte gar nichts mehr zu bewirken scheinen, in absurde, stumme, aber umso beredtere Bilder. Vor alle am Ende, wenn nach einem heißen Tag und einem heißen Gefecht ein monsunartiges Unwetter wie eine kühlende Katharsis einbricht.
Kein Fehlalarm: Von Ullmann Tøndel wird man wohl noch viel hören und sehen. Ein Erlebnis dabei ist auch Renate Reinsve. Die 37-Jährige wurde vor drei Jahren mit „Das schlimmste Mädchen der Welt“ über Norwegen hinaus bekannt und hat seither auch in internationalen Produktionen wie „A Different Man“ und „Another End“ mitgewirkt, die beide im Wettbewerb der Berlinale 2024 liefen.
„Armand“ hat Ullmann Tøndel nun ganz auf sie zugeschrieben und -geschnitten. Weshalb auch dieser Filmtitel nicht ganz richtig scheint. Eigentlich müsste er„Elisabeth“ heißen. Denn er lebt ganz vom Kraftfeld dieser Figur und ihrer Darstellerin. Ein absolutes Muss.
Drama, Norwegen 2024, 117 min., von Halfdan Ullmann Tøndel, mit Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Øystein Røge