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Natascha Kampusch öffnet die Tür zu dem Kellerloch, in das sie ihr Entführer achteinhalb Jahre sperrte. In der ARD-Sendung „Natascha Kampusch. 3096 Tage Gefangenschaft” erzählt die heute 21-Jährige, wie es war, als Kind gekidnappt zu werden - und davonzulaufen als Frau.

Das kleine Mädchen hat die Sekunden gezählt, immer bis 60 und wieder vorn, aber irgendwann waren es zu viele, und sie hat die Zeit verloren. Seit wieder Licht kam in ihr Dunkel, rechnet sie in größeren Einheiten, es war fast ihr halbes Leben. In
„Natascha Kampusch. 3096 Tage Gefangenschaft” (ARD, 21 Uhr)
öffnet die inzwischen 21-Jährige die Tür zu dem Kellerloch, in das ihr Entführer sie achteinhalb Jahre sperrte, und zu sich.

Vielleicht war es nicht nur Schicksal, sondern Glück des Autoren Peter Reichard, dass er einmal bei der Kripo war, dass er in großen Entführungsfällen ermittelte – und dass seine Frau Österreicherin ist. Jedenfalls entschied sich Natascha Kampusch für ihn und sein Team, als sie bereit war zu erzählen: wie es war, als Kind gekidnappt zu werden und davonzulaufen als Frau. Sie ist ja immer noch nicht frei, weil sie unter Dauerbeobachtung steht; sie findet sich nicht wieder in dem, was die Leute über sie reden. Viele nehmen ihr übel, dass sie nie das bemitleidenswerte Opfer gab, sondern die starke Persönlichkeit. „Es war an der Zeit”, erklärt sie, warum sie sich dem deutschen Fernsehen zuwandte, „Missverständnisse auszuräumen und die Ereignisse ins richtige Licht zu rücken.”

Deshalb auch ist Reichard der erste, der überhaupt Licht anmachen darf in den Kellerräumen von Strasshof bei Wien, die Kampusch selbst nur „das Verlies” nennt. Es ist ein Weg nach ganz unten, den er filmt, zum ersten Mal gibt es Bilder von Kampuschs Kerker: nackte Wände mit Bruchkanten, hervorquellende Dichtungsmasse, Stockflecken, Schimmel. Man kann die Feuchtigkeit förmlich riechen in der Finsternis. Ein bunter Klodeckel, ein Pferdeposter, Ventilatoren und dann die Zeitschaltuhr für das Licht hinter dem schweren Tresor, der 150 Kilo schweren Eisenbetontür: „Ein Kinderzimmer von funktionaler Unbarmherzigkeit. Ein Hobbykeller für Perverse”, sagt Reichard.

Spießige Wohnung

Wie pervers Priklopil wirklich war, wird der Zuschauer aber auch von ihm nicht erfahren. Lange hat man Natascha Kampusch danach gar nicht fragen dürfen, jetzt aber erzählt sie offen zumindest von Brutalität: Hungern ließ er sie, verbot ihr das Weinen, hat sein Opfer „gewürgt”, „geschlagen”, „misshandelt”. Und die junge Frau zeigt dem Autoren-Team sogar, wo es geschah: die spießig eingerichtete Wohnung hinter den heruntergelassenen Rollläden.

Dass sie das alles und sich öffnet, mag an drei Jahren liegen, die seit der Flucht vergangen sind, und an einem tiefen Vertrauen. Oft stellte sie Fragen, berichtet Peter Reichard, man könne Kampusch nichts vormachen, sie sei verletzlich, vorsichtig, prüfend.

Wenn sie aber redet, dann spricht sie, als würde sie lesen, vorlesen. „Mit einer Distanziertheit”, notierte Reichard, „als habe, was sie erzählt, nichts mit ihr zu tun.”

Dabei ist das nichts, was sie sich angewöhnt hat mit der Zeit, um sich vielleicht selbst zu schützen; sie war schon so unmittelbar nach ihrer Flucht, in ihrem ersten Interview, das sie damals führte mit WAZ-Gruppe. Eloquent, druckreif, besonnen.

„Die Außenperspektive”, hat Natascha Kampusch gesagt und damit eigentlich das Filmteam aus Deutschland gemeint, „erleichtert es oftmals, den Blick auf das Wesentliche zu werfen.”