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TV-Trash nach Drehbuch beherrscht das Nachmittagsprogramm. Pseudo-Dokus versuchen, eine Realität zwischen Sex und Dummheit zu vermitteln. Medienwissenschaftler Alexander Kissler rechnet mit dem Fernsehen ab.
Hemmungslose Affären und peinliche Alkoholexzesse, Gewalt in unseliger Kombination mit bemerkenswerter Dummheit. Das ist Deutschland – zumindest, wenn man dem Nachmittagsprogramm einiger Privatsender Glauben schenken mag. Weil die Realität Fernsehmachern und Publikum offenbar nicht dramatisch genug ist, inszenieren die Produzenten mit Laiendarstellern immer öfter eine Wirklichkeit nach Drehbuch – Scripted Reality. Die Formate sind jetzt ins Visier der Medienwächter geraten, sollen in Zukunft stärker kontrolliert werden. Medienwissenschaftler und Autor Dr. Alexander Kissler hat das Phänomen für sein Buch „Dummgeglotzt“ beleuchtet und spricht im Interview mit DerWesten über mögliche Auswirkungen und die Faszination einer inszenierten Realität.
Sie haben sich für Ihr Buch „Dummgeglotzt“ intensiv mit den Pseudo-Dokus, auch bekannt als „Scripted Reality“, befasst. Was haben Sie dabei erlebt?
Alexander Kissler:Es gibt momentan weit über ein Dutzend Scripted-Reality- oder Reality-Formate. Dazu gehören Dauerbrenner wie „Mitten im Leben“ (RTL) oder „Zwei bei Kallwass“(Sat.1) und Neuzugänge wie „X-Diaries“ (RTL2) über enthemmte Deutsche im Urlaub. In der Regel geht es um sexuelle Konflikte in bildungsfernen Milieus. Beim Betrachter entsteht der irrige Eindruck, der Normalfall sei es, dass Deutschland von einfältigen, ordinären und umfassend überforderten Menschen bevölkert wird. In ganz Berlin und weiten Teilen NRWs müssten demnach in Hochhäusern arme und unzivilisierte Familien zuhauf leben, denen oft die Hand ausrutscht, die aber zu töricht sind, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn einen klaren Satz zu formulieren. Ihr Leben scheint allein aus dem steten Wechsel von Lethargie und Aggressivität zu bestehen.
Ist die Wirklichkeit denn nicht mehr spannend genug?
Kissler: Das Leben ist natürlich unglaublich spannend, aber für einige Privatsender offenbar nicht dramatisch genug.
Warum sind die Zuschauer so fasziniert von der gespielten Realität?
Kissler: Es scheint vielen Menschen schlichtweg egal zu sein, ob die Sendungen echt sind oder ob ihnen nur eine Wirklichkeit vorgespielt wird. Sie scheinen mehr Wert auf Grellheiten und Drastik als auf Authentizität zu legen.
Sehen die Zuschauer überhaupt den Unterschied zwischen Realität und Drehbuch?
Kissler:Mit Sicherheit erkennt nicht jeder, dass die Handlung gespielt ist. Einige Formate, beispielsweise „Mitten im Leben“, mischen sogar bewusst Wirklichkeit und erfundene Geschichten. Dass das Publikum die Sendung für echt hält, scheint zum Erfolg dieser Formate beizutragen. Es gibt aber auch Zuschauer, die sich gerade über den künstlichen Faktor, den Mut zum schlechten Geschmack, das unterirdische Spiel der Möchtegernschauspieler und die Obszönität der Handlung amüsieren. Scripted-Reality-Formate werden dann als Freak-Show konsumiert, als zynischer Ausflug ins Unterholz unserer Gesellschaft.
Welche Auswirkungen hat das stundenlange Vorleben einer inszenierten Wirklichkeit?
Kissler: Die Formate wollen vermitteln: Wir blicken durch Deutschlands Schlüsselloch. Die Zuschauer werden stundenlang mit in der Regel subproletarischen Milieus konfrontiert, in denen es als normal gilt, sich gegenseitig an die Wäsche zu gehen, sich anzuschreien, sich die Pest auf den Leib zu wünschen. Wir wissen aus medienwissenschaftlichen Untersuchungen, dass die Wahrnehmung von künstlicher Wirklichkeit auf lange Sicht dazu beitragen kann, dass wir uns in unserer Realitätsvorstellung dem annähern, was uns da vorgegaukelt wird. Dem Publikum – und das sind am Nachmittag oft Jugendliche – wird hier eine falsche Welt gezeigt, die in erster Linie aus Paarungstrieb und Niedertracht besteht. Man gewinnt dadurch en passant den Eindruck, dass Gespräche in der Öffentlichkeit über Intimitäten und über Perversionen nicht nur interessant, sondern auch normal sind. Der Bereich des Sag- und Zeigbaren wird entgrenzt.
Wie viel „Reality“ steckt eigentlich noch in den Formaten?
Kissler: Real sind die Drehorte. Es wird nicht in Studios gedreht, sondern in Wohnungen. Real scheint mir auch der Slang der Gosse zu sein. Das Erfolgsgeheimnis liegt allerdings bei den Laiendarstellern. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um Schauspieler, sondern um Darsteller, die auf Zuruf Derbheiten ausagieren. Das schlechte Spiel soll dabei den Eindruck von Authentizität vermitteln. Gerade das Unvermögen, spielen zu können, erweckt paradoxerweise den Anschein, hier werde nicht gespielt und es gehe alles mit rechten Dingen zu. Es werden gezielt sehr junge Menschen, manchmal auch noch Minderjährige, gesucht, denen man Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit verspricht, wenn sie vor der Kamera asozial agieren. Deswegen halte ich die Strategien der Produktionsfirmen und auch viele der Sendungen für unmoralisch. Die Aussage lautet: Asozialität lohnt sich, asoziales Verhalten wird mit Aufmerksamkeit belohnt. Für die Produktionsfirmen liegt der Vorteil der künstlichen Realität natürlich darin, dass sie nach Belieben zugespitzt und pauschalisiert werden kann.
Wo wird diese Entwicklung wohl hinführen? Ist der Höhepunkt schon erreicht?
Kissler: Das Fernsehen wird immer mehr zum Jahrmarkt der Absonderlichkeiten, aber irgendwann wird ein Endpunkt erreicht sein. Dann haben die Zuschauer keine Lust mehr auf eine Welt voll Keilerei, Fleischbeschau und Gedankenlosigkeit. Mit „Abenteuer Afrika“ hat RTL2 jüngst versucht, die Themen Auswanderung, schwer erziehbare Jugendliche und Adipositas zu vermischen. Junge Menschen wurden planvoll aufeinander gehetzt, und der Zuschauer konnte beobachten, wie die Streitereien ihren Lauf nehmen. Dann wurde eine Expertin eingebunden, die die Probleme analysieren und durch ein vermeintlich klärendes Gespräch aus der Welt schaffen sollte. Tatsächlich ging es in diesem Format ausschließlich darum, Aggressionen darzustellen und sie der üblichen Realitätsverwurstungsmaschinerie zuzuführen. Dass dieses Format schnell aus dem Programm verschwunden ist, stimmt mich hoffnungsfroh.