Essen. Warum gerät ein Kind in die Obhut drogenabhängiger Pflegeeltern? Anlässlich des Todes der elfjährigen Chantal aus Hamburg diskutierte Günther Jauch unter anderen mit Ex-Supernanny Katja Saalfrank über die Beschränktheit des staatlichen Kinderschutzes und ein Unding namens “milieunahe Unterbringung“.

Es ist nur schwer zu verstehen, wie es zum Tod der elfjährigen Chantal aus Hamburg-Wilhelmsburg kommen konnte Die 11-Jährige lebte seit 2008 in einer Pflegefamilie. Doch die Pflegeeltern waren drogenabhängig und wurden mit Methadon behandelt. Am 16. Januar starb das Mädchen an einer Methadon-Vergiftung – dabei wurde die Familie immer wieder durch das Jugendamt und freie Träger kontrolliert.

Doch wieso lebte die Elfjährige überhaupt in dieser Familie? Warum werden Drogensüchtigen Kinder anvertraut? „Wer versagt beim Kinderschutz“ fragte Günther Jauch an diesem Sonntag seine Gäste – und bekam doch keine richtige Antwort. Denn, das wurde in dieser Stunde sehr deutlich, so einfach und klar die menschlichen Reflexe in dieser Frage sind, so kompliziert wird es, wenn man konkret mit den betroffenen Familien zu tun hat.

Peter Hahne hat zu diesem Thema unzählige Briefe erhalten – und zitiert ausgiebig

Besonders unglücklich macht diese Komplexität Peter Hahne. Der Bild-Kolumnist hat zu diesem Thema Zuschriften erhalten, hunderte, aus denen er ausgiebig zitiert. Dabei kommt er zu sehr einfachen Einsichten. Es würde zu wenig kontrolliert, das Pflegegeld in Alkohol und Zigaretten angelegt und Familien, die gerne Pflegekinder aufnehmen würden, würden wegen Kleinigkeiten nicht zugelassen.

Außerdem würden Beamte ihre Zeit damit verschwenden, auszumessen, wie weit die Stühle in Gartenlokalen auf der Straße stehen. „Die sollte man alle in die Jugendämter schicken!“ fordert der ZDF-Moderator.

Die Pflegefamilie wurde immer wieder besucht, alle Berichte waren positiv

Wer mit dem Alltag der Jugendarbeit vertraut ist, muss sich immer wieder auch populistischer Kritik stellen. Johannes Kahrs, SPD, war Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses Hamburg-Mitte. Mit seinem Rücktritt übernahm er die politische Verantwortung für den Tod von Chantal. Noch heute ist ihm nicht klar, was dort schiefgegangen ist – denn eigentlich wurde die Familie regelmäßig von unterschiedlichen Personen besucht.

Alle Berichte waren positiv. Dass die Pflegeeltern im Methadonprogramm waren, war bekannt, auch Chantals leibliche Mutter war drogenabhängig, kannte die späteren Pflegeeltern sogar. „Milieunahe Unterbringung“ nennt sich das – und kommt eigentlich bei keinem in der Runde gut an.

Jugendämter stehen vor einer schwierigen Abwägung

Marita Meissner, Sozialarbeiterin aus dem Jugendamt Gelsenkirchen, sagt, in ihrer Stadt wäre die Elfjährige nicht zu dieser drogenabhängigen Familie gekommen, auch Heinz Buschowsky, SPD aus Berlin-Neukölln kritisiert die Unterbringung . Dennoch betonen beide die schwierige Abwägung vor der Jugendämter tagtäglich stehen.

Denn auch die sogenannte „Inobhutnahme“ traumatisiert und beschädigt die Kinder. Doch bald kommt die Diskussion, an der auch Katja Saalfrank, die RTL-Supernanny, teilnimmt, auf das im Fall Chantal zentrale Thema: Wenn man ein Kind aus seiner Familie herausnimmt, warum gibt man es dann zu  vorbelasteten Pflegeeltern in derart schwierige, wohl auch verwahrloste Verhältnisse?

„Milieunahe Unterbringung“ hieß für Chantal: Drogenmilieu

Die Antwort, dies sei nun mal „milieunah“ muss schockieren, heißt sie doch: Kinder, die aus ärmlichen, verwahrlosten Verhältnissen kommen, soll der Schock einer sauberen Wohnung erspart bleiben. Pflegemutter Karen Wegner, die seit 14 Jahren Pflegekinder aufnimmt, ist ebenfalls entsetzt.

Ihre Frage: „Müsste es dann nicht auch Kinderheime für Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht geben?“ bringt das Absurde dieser Unterbringung auf den Punkt.

Jedes Bundesland hat andere Regeln

Und während in Bremen drogensüchtige Eltern besonders stark kontrolliert werden, ist dies in anderen Bundesländern nicht vorgesehen. Die gesundheitlichen Vorschriften für Pflegeeltern variieren, ebenso die Verantwortung der freien Träger und die Häufigkeit der Kontrollen.

Wie man sich darin zu recht finden soll? „Schwierig“ sei das, befinden sowohl Meissner als auch Buschkowsky. Bei über 800 freien Trägern in Berlin verliert man schon mal die Übersicht, räumt der Berliner Bezirksbürgermeister ein. Und was diese freien Träger da im Einzelfall so leisteten, sei ebenfalls nicht ganz einfach zu überblicken – schließlich ginge es vielen auch einfach ums Geld.

Im Fall Chantal wurden Fehler gemacht

Im Fall Chantal kommt also doch einiges an Fehlern zusammen: Die Unterbringung bei „milieunahen“ Pflegeeltern, die mangelnde Gesundheits- und Drogenkontrolle in der Familie und eine Betreuung durch freie Träger, die möglicherweise nur ein eingeschränktes Interesse an der Aufdeckung von Missständen hatten. Denn bei Problemen müssen diese Träger häufig mehr leisten, ohne auch mehr Geld zu bekommen.

Doch selbst wenn die Zustände in der verwahrlosten Wilhelmsburger Wohnung benannt worden wären – die Entscheidung über die Unterbringung fällt das Gericht. Marita Meissner aus Gelsenkirchen kennt das Problem: Nicht immer folgen die Richter der Empfehlung des Jugendamtes und wohl nie reicht es für eine „Inobhutnahme“ wenn das Bauchgefühl des Sozialarbeiters gegen eine Familie spricht.

Absolute Sicherheit wird es in der Jugendarbeit nicht geben

Katja Saalfrank wird dennoch nicht müde, an das „Bauchgefühl“ zu appellieren – und Peter Hahne bekommt die Gelegenheit Nelson Mandela zu zitieren, der die Humanität einer Gesellschaft an deren Umgang mit Kindern abliest. All das hört sich schön und richtig an. Auch der Appell an alle Bürger, Verdachtsfälle sofort und ohne Angst vor Denunziantentum zu melden, darf nicht fehlen.

Der tragische Tod von Chantal hätte verhindert werden können. Und dennoch: Sozialarbeiter wie Marita Meissner, die etwa 140 Familien betreut, sind nicht in der Lage, die absolute Sicherheit aller Kinder in Deutschland zu garantieren. Wer im schwierigen Dickicht bürokratischer Strukturen, juristischer Abwägung und persönlichen Ermessens arbeitet, lebt stets mit dem Risiko, einen tödlichen Fehler zu begehen.