Essen. Unbelehrbare Raufbolde, undisziplinierte Störenfriede - für viele Lehrer wird der Schulalltag zum Alptraum. Der ARD-Talk von Reinhold Beckmann zum Thema „Lehrer am Limit - überforderte Lehrer und verlorene Bildungschancen“ hatte Potenzial - blieb jedoch oft oberflächlich und voller Schüler-Klischees.

Sie sind bockig, unkontrollierbar und haben keinerlei Respekt vor vermeintlichen Autoritätspersonen: Das sind die Kinder, mit denen Lehrer heutzutage zu tun haben. Kinder, die keine Disziplin haben, sich ständig widersetzen und nur das tun, auf das sie gerade Lust haben – wozu sinnvolles Lernen sicherlich nicht zählt.

Das ist die Alptraumvorstellung jedes Lehramtsstudenten Deutschlands ist aber auch ein Klischee, das sich durch realitätsferne, pseudo-dokumentarische Unterhaltungsserien im Fernsehen verselbstständigt hat. Die Vorstellung des Problemkinds scheint sich so sehr in den Köpfen verankert zu haben, dass sie nicht mehr hinterfragt wird, wenn über den Alltag an deutschen Schulen diskutiert wird – und auch die ARD-Talksendung „Beckmann“ scheiterte am Donnerstagabend daran, die Stereotype erfolgreich zu enttarnen als eine eben solche.

„Lehrer am Limit – überforderte Lehrer und verlorene Bildungschancen“ war das Thema, das die Gesprächspartner um den Moderator durch den Abend leitete. Zunächst lieferte eine Reportage der „Panorama“-Moderatorin Anja Reschke Perspektiven einer Hamburger Stadtteilschule. Eindrücklich schilderte Reschke ihre Erfahrungen, die sie in den acht Wochen der Dreharbeiten an der Schule gemacht hatte, in der sie unter anderem als Co-Lehrerin selbst mit den Kindern zu tun hatte.

Polemisierende Äußerungen bei Beckmann-Talk in der ARD

Der Zuschauer wurde konfrontiert mit Bildern von unbelehrbaren Raufbolden, undisziplinierten Störenfrieden, aber es waren auch durchaus sanft gezeichnete Portraits von den eher schüchternen, besonders hilfsbedürftigen Kindern zu sehen, die in Zeiten vor der Inklusion in einer Förderschule gelandet wären. Die Herausforderungen, denen sich Lehrer der modernen Inklusionsschulen stellen mussten, wurden nachvollziehbar und differenziert dargestellt.

Schade, dass so mancher Gast in Beckmanns Gesprächsrunde eher zu Polemisierungen neigte, als die tieferliegenden Probleme des gesellschaftlichen Wandels zu benennen. „Wir haben auch unsere Kevins“, urteilte da in etwa der Emdener Gymnasiallehrer und Jurist Günther Hoegg. „Eltern erziehen heute anders: Kevin weiß, dass Grenzen verhandelbar sind.“ Klare Disziplinierung und gezielte, rasch ergriffene Sanktionsmaßnahmen seien im Unterricht notwendig, so Hoegg. „Die Lehrer müssen schneller durchgreifen und nicht so viele Ermahnungen geben. Die Schüler müssen wissen, dass ihre Aktionen Konsequenzen haben.“

Die Gelsenkirchener Lehrerin Betül Durmaz bewies derweil einen präziseren Blick auf die soziale Situation, in der sich viele der sogenannten „Problemkinder“ befinden. Dass viele Eltern überfordert seien mit ihren Kindern, dass sie häufig ohne Arbeit und die Sprösslinge die einzigen in der Familie sind, die einen geregelten Tagesablauf haben, spiegele sich im Verhalten der Kinder im Unterricht wieder, so Durmaz. Viele erkennen nicht, dass zu Schule gehen wichtig ist, weil ihre Eltern den strukturierten Lebensalltag nicht vorleben können. Deshalb sei die Beziehungsarbeit der Lehrer mit den Schülern ein zentraler Punkt, an dem gearbeitet werden müsse.

Seltene Lösungsansätze für Problemsituationen an Schulen

Aus ihrem Alltag an der Malteserförderschule in Gelsenkirchen schilderte Durmaz Lösungsansätze für problematische Unterrichtssituationen. Ähnlich wie bei der in der Reportage gezeigten Schule gibt es dort einen Trainingsraum, in den Schüler geschickt werden, wenn die Situation im Unterricht mal eskaliert. Dann sprechen sie mit unbeteiligten Lehrern, die das eigentliche Problem ergründen, um später gemeinsam mit dem betroffenen Lehrer eine Verhaltensweise zu finden, die für beide Seiten angenehm ist – ganz diplomatisch. Und schwierige Kinder gebe es viele, berichtete Durmaz.

Dass viele Lehrer unter den steigenden Anforderungen im Schulalltag zu leiden haben, wurde als Leitmotiv der Sendung immer wieder aufgegriffen. Dabei wurde deutlich, wie vielschichtig die Problematik der Lage ist, in der sich das Bildungssystem im Allgemeinen befindet. Immer größer werdende Klassen, zu wenig personelle Ressourcen, ein zu akademisch orientiertes Studium, gleichzeitig ein unzureichendes Qualitätsmanagement unter den Lehrern selbst und das große Problem der allzu häufig fehlgeschlagenen Kommunikation von Lehrern und Eltern waren nur einige der Themen, die für sich allein genug Potential hätten, eine abendliche Diskussionsrunde mit Gesprächsstoff zu versorgen.

Demnach blieben auch die Lösungsansätze häufig pauschal und oberflächlich, wenn beispielsweise der Bildungsexperte der OECD, Andreas Schleicher, einen weiteren Vergleich mit dem skandinavischen Schulsystem anstrengte, dessen auch Beckmann selbst schließlich überdrüssig wurde.

Der Respekt vor Autoritätspersonen fehle heute an Schulen

Durmaz‘ Einschätzung, dass der direkte Austausch mit den Kindern die unmittelbare Unterrichtssituation nachhaltig positiv beeinflussen könne, teilte auch Kai Stöck, Schulleiter der in der Reportage portraitierten Hamburger Stadtteilschule. Es sei wichtig, eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen: Denn der natürliche Respekt vor Autoritätspersonen, da pflichtete auch Anja Reschke bei, sei heutzutage keine Grundlage mehr, auf die Lehrer zurückgreifen können. Diplomatie, Verhandlungsbereitschaft ist es, was die Lehrer am meisten brauchen, dieser Tenor setzte sich schließlich in der Gesprächsrunde durch.

Dass es auch Fälle gibt, in denen alle Mühe verloren scheint, in denen sich wiederspiegelt, dass rund 30 Prozent aller Lehrer in Deutschland an Schlafstörungen leiden, schien den Gesprächspartnern selbstverständlich – kaum Beispiele von hoffnungslosen Fällen wurden tatsächlich angesprochen. Und doch reagierte niemand überrascht, als Betül Durmaz berichtete, sie habe einmal einen Schüler verklagen müssen, wegen öffentlicher Beleidigung. Nicht um ihn zu disziplinieren (dies sei ohnehin nicht möglich gewesen, deutete sie an), sondern um ein Zeichen zu setzen, dass sich Lehrer nicht alles gefallen lassen müssen.

Zum Schluss präsentierte Reinhold Beckmann beim ARD-Talk einen Beitrag über eine Göttinger Inklusionsschule, in der anscheinend alles ganz paradiesisch funktioniert – aus der mit dem Deutschen Schulpreis prämierten IGS kamen die Schülerinnen Shari und Linda ins Studio, um den Gästen mal zu erklären, wie es richtig geht. Damit endete die Sendung wiederum auf einem reichlich oberflächlichen Niveau, das dem titelgebenden Thema kaum gerecht wurde: Dass sich im Zentrum der Problematik ein ganzer Knoten von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen befindet, wurde zwar ansatzweise gestreift, doch eine gewissenhafte Analyse wurde nicht gewagt.