Davor gab es viel Seichtes in den Charts - aber 1991 taucht wie aus dem Nichts Nirvana auf und definiert den Rock neu, führt ihn zu seinen Wurzeln des Aufbegehrens zurück.

Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Die 80er Jahre waren grausam. Also musikalisch. Neue Deutsche Welle, Italo-Pop, der ganze seichte Synthie-Kram; in den Charts nur weichgespülte Tu-bloß-niemandem-weh-Songs. Modern Talking, Alphaville, Bros, Boy George, David Hasselhoff – sogar das britische Busenwunder Samantha Fox und Monacos Prinzessin Stephanie stürmten die Hitparaden. Hölle, Hölle, Hölle.

Wer, wie der Autor dieses Textes, am Ende der 60er das Licht der Welt erblickt hatte, und in den 80ern pubertierte, kann heute fast jede Verfehlung mit dem Hinweis auf eine „schwere Jugend“ entschuldigen. Ganz und gar unerklärlich, dass 80er-Jahre-Partys nicht unter „Folter“ fallen.

Rockmusik als Karikatur

Rockmusik war in jenen Jahren nur noch eine Karikatur all dessen, was sie vormals ausgemacht hat. Die Revoluzzer der 60er wie Hendrix, Joplin und Morrison hatten sich totgesoffen oder -gefixt. Die Supergruppen wie Beatles, Stones, Doors, Genesis und Pink Floyd waren entweder längst Geschichte oder hatten sich an den Mainstream verkauft.

Eine schlimme Zeit. Akustisches Dauerfasten. Okay, R.E.M. und U2 erblickten in diesen Jahren das Licht der Musikwelt. Viel mehr Hoffnung aber war nicht.

Doch wenn du denkst, es geht nichts mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. So waren sie plötzlich da. Wie aus dem Nichts. Nirvana. Und mit ihnen eine vollkommen neue Spielart des guten alten Rock’n’Roll. Grunge nannten die Marketingprofis der Plattenfirmen diesen Stil – übersetzt: Dreck! Laute, hingerotzte Stücke voller Wut, irgendwo zwischen Heavy Metal, Punk, Folk und Garagen-Rock. Endlich hatte Musik wieder etwas Aufmüpfiges, und binnen kürzester Zeit war das sterbende Musik-Genre reanimiert. Rock’n’Roll was still alive!

Als den 80ern nur noch wenige Monate bleiben, tritt die junge Band aus Seattle auf den Plan: Nirvana. Anfang Mai 1989 veröffentlicht das Trio sein Debüt-Album „Bleach“. Die vor allem vom Punk beeinflusste Platte bleibt zunächst ein Insider-Tipp. Zum Bestseller wird sie erst 1991. Da erscheint „Nevermind“, das zweite Nirvana-Album, die Platte mit dem tauchenden Baby – ein Cover, so berühmt wie das „Abbey Road“ -Bild von den Beatles. Weniger optisch als vielmehr musikalisch ist „Nevermind“ ein Meilenstein. Rock’n’Roll reloaded.

30 Millionen verkaufte Alben und eine neue Bewegung

30 Millionen Mal verkauft sich „Nevermind“ bis heute, in etwa die gleiche Zahl geht vom wenig später veröffentlichten Pearl-Jam-Debüt „Ten“ über die Ladentische. Weitere Bands folgen: Soundgarden, Alice In Chains, Stone Temple Pilots, Smashing Pumpkins. Für eine relative kurze Phase ist Grunge das große Ding. 20 Jahre später kann man getrost feststellen: Grunge war bis heute die letzte wirkliche Innovation des Rock’n’Roll.

Der Mann, der wie kein anderer diese Musikrichtung personifiziert, ist Kurt Cobain. Scheidungskind, Schulabbrecher, ein sensibler, gut aussehender Typ mit langem, blonden Haar, dunklen, traurigen Augen und Drei-Tage-Bart. Über Nacht ist dieser Kerl, was er nicht sein kann, weil er es nicht sein will: ein Superstar.

Die Ikone der Generation X, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Orientierung im Großen und im Kleinen nach sich selbst sucht. Die aufbegehren möchte, aber so recht nicht weiß wie. Bis Nirvana – mit Krist Novoselic am Bass und Dave Grohl am Schlagzeug – Songs wie „Come As You Are“ und „Smells Like Teen Spirit“ liefern. Die Gebrauchsanweisung.

Die Refrainzeile „Here We Are Now, Entertain Us“ (Hier also sind wir - und jetzt bespaßt uns!) wird zum Credo der Hoffnungs-, Lust- und Antriebslosen.

Das Ende mit der Schroflinte

1993 legt die Band ihr drittes und letztes Studioalbum nach: „In Utero“ wird ebenfalls ein Meisterwerk, „MTV Unplugged in New York“ sogar eine Sternstunde mit einem sensationellen Cobain. Nur: Als der Live-Mitschnitt im November 1994 erscheint, ist der Nirvana-Frontmann schon tot.

Cobain ist mit dem Ruhm so wenig fertig geworden wie so viele vor ihm. Der Glamour, die immense Erwartungshaltung und der Druck, Vorbild für Millionen junge Menschen zu sein, haben ihn in die Isolation getrieben. Mehr und mehr hat er sich zurückgezogen, viel zu viel getrunken, bis er schließlich auf Heroin war.

Einen ersten Selbstmordversuch überlebt er – beim zweiten geht der 27-Jährige auf Nummer sicher. Als man ihn findet, am 8. April 1994, einem Freitag, ist er schon drei Tage tot. Er hat sich eine mehrfache Überdosis Heroin gespritzt, einen Abschiedsbrief geschrieben, fünf Zigaretten geraucht und sich mit einer Schrotflinte den Schädel weggepustet.

Der Abschiedsbrief, den man neben einer verkrusteten Blutlache findet, endet mit einem Zitat aus dem Neil-Young-Song „My My, Hey Hey“: „Es ist besser zu verbrennen, als langsam zu verwelken“, heißt es da.

Kurt Cobain hat kurz, viel zu kurz, aber spektakulär geblüht. Dass er ein Mythos ist und bleiben wird, liegt gewiss an der Art seines Abgangs. Aber auch daran, dass er den Rock’n’Roll neu definiert und ihm eine Zukunft geschenkt hat. Nicht weniger als das ist sein Verdienst.

Die Charts des Jahres 1991:

„Wind of Change“ von den Scorpions löst am 3. Juni 1991 „Joyride“ von Roxette vom Spitzenplatz ab. Der Hit ist der größte Erfolg der Scorpions in Deutschland, die international längst Superstars sind. Bryan Adams schafft mit seiner Schmachtballade aus „Robin Hood“ bei uns nur Platz zwei der Jahrescharts. In England und USA steht er ganz oben. (Quelle: media control)

1.Scorpions: Wind Of Change

2.Bryan Adams: (Everything I Do) I Do It For You

3.Enigma: Sadness Part I

4.Roxette: Joyride

5.Kate Yanai: Bacardi Feeling

6.Torfrock: Beinhart

7.Vanilla Ice: Ice Ice Baby

8.Cher: The Shoop Shoop Song

9.Zucchero & Paul Young: Senza Una Donna

10.Diether Krebs: Ich bin der Martin