Wilton. Dave Brubeck schrieb vor 50 Jahren Geschichte. Sein Album "Time Out" mit dem Klassiker "Take Five" verkaufte sich als erste Jazz-Platte mehr als eine Million Mal. Jürgen Overkott traf die lebende Piano-Legende daheim in Wilton, US-Staat Connecticut.

Sie haben in ihrem Leben viele Grenzwälle niedergerissen, rassische, politische, religiöse. Sind Sie ein Rebell?

Dave Brubeck: (Pause) Nein, so habe ich mich nie gesehen. Ich habe immer das getan, was ich für richtig hielt. Das war bei meiner ersten Band in den 50er Jahren so, in der ein schwarzer Bassist spielte: Eugene Wright. Auch in politischen Fragen habe ich klare Positionen vertreten. Und religiös? Nun ja, ich habe festgestellt, dass alle drei großen Religionen im Grunde dieselben Ziele verfolgen. Egal ob Christ, Jude oder Moslem: Wenn man die Schriften genau liest, geht es in der Hauptsache um Nächstenliebe. Paul Schwendener von den Milken Archives of American Jewish Music, beispielsweise, ist davon überzeugt, dass die fünf Bücher Mose Aussagen enthalten, die Juden, Christen und Moslems teilen. Mir ist es wichtig, den Hass aus der Welt zu schaffen. Seit meiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg geht es mir um ein großes Ziel: Frieden.

Das Album

Neue Version zum Jubiläum

Das Jazz-Album „Time Out" schrieb 1959 Musikgeschichte. Ausgerechnet die beiden ungewöhnlichsten Stücke wurden zu den beliebtesten des Millionenerfolges: „Take Five" pulst im Fünf-Viertel-Takt, „Blue Rondo Alla Turk" gar im Neun-Achtel-Takt. Dass sich die beiden Nummern dennoch in die Gehörgänge einer großen Fan-Gemeinde bohrten, hat damit zu tun, dass die Themen scheinbar leicht und populär daherkommen. Die Plattenfirma SonyBMG hat „Time Out" zum Jubiläum wiederveröffentlicht – als Doppel-CD plus DVD.

Lesen Sie oft in der Bibel?

Dave Brubeck: Oh ja, das tue ich, nicht jeden Tag, aber oft.

Haben Sie auch den Koran gelesen?

Dave Brubeck: Ich kenne seine Kernaussagen. Ich habe viele Gespräche darüber geführt, auch mit Experten.

In den 50er Jahren ging es eher um Fragen der Rassentrennung. Sie haben auf viel Geld verzichtet, wenn Fernsehsender und Konzertveranstalter darauf bestanden, dass Sie mit einer rein weißen Gruppe kommen. Warum?

Dave Brubeck: Es gibt Gagen, und es gibt Überzeugungen. Ich habe mir meine Überzeugungen niemals abkaufen lassen. Im Gegenteil: Wenn wir als gemischtrassige Band nicht in ein Hotel durften, haben reiche weiße Gönner dafür gesorgt, dass wir privat unterkamen. Und wenn Eugene nicht mit uns im Restaurant essen durfte, sondern in die Küche zum Personal musste, kam er oft mit einem breiten Grinsen heraus und sagte: “Sie haben mir das größte und beste Steak gegeben, dass ich je gesehen habe.”

Das war vor der Zeit des Albums “Time Out”, mit dem Sie Geschichte schrieben. Haben Sie je erwartet, dass die Platte ein derartiger Erfolg werden würde?

Dave Brubeck: hebt die Augenbrauen: Nein, im Gegenteil. Ich musste bei der Columbia dafür kämpfen, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. Ich hatte nämlich gegen drei Regeln der Firma verstoßen: Erstens zeigte das Cover ein Gemälde, zweitens enthielt das Album nur Originalkompositionen, und drittens konnte man zu der Musik nicht tanzen. Sagte jedenfalls der damalige Chef von Columbia.

Tatsächlich? Gerade “Take Five” klingt doch trotz des krummen 5/4-Taktes wie eine Art Walzer.

Dave Brubeck: Der damalige Boss sah es anders, und er hatte die Aufnahmen Freunden vorgespielt, die genauso dachten; vor kurzem erging es mir übrigens ähnlich. Haben Sie das Diktiergerät an? Ah, gut. Also: Das Doppel-Album “Brubeck Meets Bach” kam in Deutschland heraus, in Amerika aber ist es bis heute nicht zu haben. Nur weil es ein Mann bei der Sony in den USA nicht will.

Warum wurde “Time Out” dann doch noch veröffentlicht?

Dave Brubeck: Es war eine Art Graswurzel-Revolution. Es gab unheimlich viele DJ, die “Take Five” mochten, und sie spielten die Aufnahme wieder und immer wieder. Und das ohne Geschenke und Geld. Sie mochten das Stück einfach. Und daher wurde der Druck auf die Columbia so groß, dass sie das Album veröffentlichte.

“Take Five” stammt von Ihrem damaligen Saxophonisten Paul Desmond…

Dave Brubeck: Moment mal, das Stück ist von uns allen.

Aber Paul Desmond ist als Komponist angegeben.

Dave Brubeck: Schon. Aber die ganze Gruppe hat das Stück gemeinsam entwickelt. Joe Morello, unser Schlagzeuger, hatte die Idee zu dem 5/4-Beat (klopft den Takt auf die Lehnen seines Ledersessels). Paul Desmond steuerte das Thema bei, und deshalb haben wir beschlossen, dass er als Komponist geführt werden sollte.

Paul Desmond hat später sein eigenes Ding gemacht. Haben Sie bereut, dass er ging?

Dave Brubeck: Nein, nein, es war genau anders herum. Ich bin gegangen, ich habe mich von der Truppe getrennt.

Und später, 1972, kamen Sie wieder mit Paul Desmond zusammen…

Dave Brubeck: …aber wir haben die Gruppe um Gerry Mulligan ergänzt. Mir gefiel die Idee, neben Paul Desmond einen zweiten Saxophonisten zu haben, der mit seinem erdigen Bariton-Sax ganz anders spielt als Paul. Die zweite Band war (lacht) besser als die erste Gruppe. Ich hatte mit Jack Six einen fantastischen Bassisten und mit Alan Dawson einen fantastischen Schlagzeuger. Wir waren damals in Europa. Bei unserem Konzert in der Berliner Philharmonie haben auch den “Indian Song” (ein Brubeck-Klassiker; Red.) gespielt, und Alan Dawson hatte ein unglaubliches Schlagzeug-Solo hingelegt. Na ja, später haben sich unsere Wege getrennt. Und irgendwann hörte ich, dass Alan Dawson nach langer Krankheit im Sterben lag; er konnte nicht einmal mehr sprechen. Und da erinnerte ich mich an den “Indian Song”. Ich habe seine Frau angerufen und sie gebeten, Alan den Song vorzuspielen. Und als er ihn hörte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

Berlin war eine besondere Sache.

Dave Brubeck: Oh ja. Berlin - das war verrückt. Ich erinnere mich an einen Auftritt bei den Berliner Jazztagen. Wir waren die letzte Gruppe. Es war schon Mitternacht, und der Veranstalter sagte uns, die Leute sind schon müde, sie gehen. Beinahe hätten wir gar nicht auf die Bühne gedurft. Und dann spielten wir doch. Als wir die Bühne nach dem letzten Stück verließen, bat uns der Veranstalter um Zugaben. Was heißt: bat? Er bekniete uns. Er sagte: Wenn Ihr nicht zurückgeht, gibt es im Saal einen Aufstand. Ich erinnere mich sowieso gern an Berlin.

Warum?

Dave Brubeck: Das hat etwas mit dem Brandenburger Tor zu tun. Es gab dort früher einen Club, der ganz in der Nähe des Tors war; ich weiß nicht, ob es den Club heute noch gibt. Jedenfalls habe ich dort genau an jenem Abend gespielt, als im November 1989 die Grenze aufgemacht wurde. Ich habe auch früher schon in Berlin gespielt, im Osten, als die Mauer noch nicht stand; ich glaube, das war 1958. Ich sollte von West-Berlin aus im Kofferraum eines Autos dorthin gebracht werden. Das habe ich abgelehnt. Ich habe gesagt: Nee, das mache ich. Ich kann ja hinten sitzen. Das habe ich auch gemacht, und im Nachhinein dachte, Mann, das war ziemlich gefährlich…

…denn Sie standen als Amerikaner in der DDR für die Musik des sogenannten Klassenfeindes. Ist Jazz auch ohne Worte politisch?

Dave Brubeck: Oh ja, das ist er. Jazz bedeutet Freiheit. Jazz hat immer etwas, was Machthaber nicht kontrollieren können, etwas Spontanes, und das macht ihnen Angst. Selbst in Kuba, unter Fidel Castro, war das so. Was glauben Sie, welche Schwierigkeiten Freunde wie Paquito (D’Rivera; Red.) dort hatten! Ich habe Paquito geraten, sag Fidel, Du spielt kubanische Volksmusik, und genau das hat er getan. Aber Jazz ließ sich nicht aufhalten - nicht einmal in der Sowjetunion. Wissen Sie, was Röntgengeräte mit Jazz zu tun haben?

Sagen Sie’s mir.

Dave Brubeck: Ärzte und Krankenschwestern haben sich in der Sowjetunion aus Teilen der Geräte Radioempfänger gebaut, um Jazz über den Sender Voice Of America zu hören. Das haben mir Fans später bei Konzerten erzählt.

Apropos Konzerte. Sie werden bald 89 und sind gerade von einer 14-tägigen Tour wiedergekommen.

Dave Brubeck : Ich war an der Westküste, auch in der Nähe meines Heimatortes. Wissen Sie, die Musik hält mich jung, sie gibt mir eine Menge Energie. Meine Band und ich - wir sind ein eingespieltes Team. Wir arbeiten seit mehr als 20 Jahren zusammen…

…ein Blick von Ihnen, und die Mitglieder Ihrer Band wissen, was Sie tun sollen.

Dave Brubeck: Nee, nee, das ist gar nicht nötig. Das sind super Profis, und es gibt ein blindes Verständnis, und meine Musiker, Bobby Militello am Sax, Michael Moore am Bass und Randy Jones am Schlagzeug, arbeiten schon seit weit mehr als 20 Jahren mit mir zusammen, viel länger, als die Mitglieder meiner früheren Bands. Wir sind wie gute Freunde.

Sie setzen auf langfristige Beziehungen. Mit Ihrer Frau sind Sie seit 67 Jahren verheiratet. Was ist das Geheimnis Ihrer Ehe?

Dave Brubeck: …weil ich soviel unterwegs bin. Sagt meine Frau (lacht). Meine Frau ist übrigens gerade dabei, die Geschichte unseres Lebens aufzuschreiben.

Wird sie uns die ganze Wahrheit erzählen?

Dave Brubeck: Ich hoffe, nicht (lacht).