Essen. Ein Prosit auf die Gerechtigkeit: Von A wie Anmut bis Z wie Zivilcourage erinnert der Historiker Asfa-Wossen Asserate in seinem neuen Buch die Deutschen an ihre (einstigen) Tugenden. Dabei ist der pünktliche Deutsche ist ein ebenso doofes Klischee wie der leidenschaftliche Italiener.

Als der Römer Tacitus über „Germania“ schrieb, da lobte er des Volkes Tugenden: Redlichkeit und Freiheitsliebe, Treue und Aufrichtigkeit, männliche Tapferkeit und weibliche Keuschheit (allerdings bleibt bis heute ungeklärt, ob er je einen Germanen leibhaftig sah). Heute, in der globalen Gegenwart, mutet der Begriff der Tugendhaftigkeit ebenso verstaubt an wie die Idee ihrer nationalen Prägung. Der pünktliche Deutsche, das ist ein ebenso doofes Klischee wie der leidenschaftliche Italiener. Zudem bezieht sich der heutige Selbstoptimierungswahn eher auf gründelnde Seelenarbeit. Das Nachdenken über Werte jenseits persönlichen Glücksstrebens scheint aus der Mode geraten zu sein.

Es bedarf wohl jenes distanziert-freundlichen Blickes, den Asfa-Wossen Asserate auf seine deutschen Landsleute wirft, um „Deutsche Tugenden“ zu würdigen. Keinesfalls wolle er als Tugendwächter auftreten, sagt der Autor – der 2003 mit einem Buch über „Manieren“ die Bestsellerlisten stürmte und selbst am Telefon ausgesucht höfliche Umgangsformen pflegt („Meine sehr verehrte gnädige Frau“). Nur finde er es schade, dass Tugenden in Vergessenheit gerieten, „die zu eurer Geschichte und eurer Glanzzeit gehörten“. Nämlich? „Was hat es einst bedeutet“, gerät Asserate ins Schwärmen, „ein deutscher Kaufmann zu sein! Natürlich haben diese Menschen Geld verdienen wollen. Aber das Geldverdienen musste in Einklang gebracht werden mit dem Wohle der Gemeinschaft.“

Ein Lob des deutschen Kaufmanns

Was ist das: Tugend? Auch den ehrlichen Kaufmann kann man zurückführen auf jene vier Varianten des Gut-Seins, die schon die Antike für zentral hielt: Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Tapferkeit sind uns bis heute „Kardinaltugenden“, aus denen „Sekundärtugenden“ folgen. Dabei liegen Tugend und Untugend, gar Laster, dicht beieinander. Wer sich bescheiden nennt – ist es wohl eher nicht. Schlimmer, so Asserate: „Hinter der Berufung auf die Bescheidenheit lauert das Laster des Geizes, unter dem Namen Habgier als eine der sieben Todsünden bekannt.“

Von A wie Anmut bis Z wie Zivilcourage listet sein Buch Wunsch und (historische) Wirklichkeit auf. Streift doch jedes Kapitel, durchaus unterhaltsam, mehrere Jahrhunderte. Die Anmut zum Beispiel sucht der Autor in deutschen Fußgängerzonen zwischen „Leggins, Jogginghosen und Turnschuhen“ vergeblich, findet sie aber in der natürlichen Haltung der Königin Luise. Die nicht zu verwechseln ist mit steifer Etikette: „Das Hofzeremoniell war für sie nicht erfunden.“

Welchen Spiegel hält der Autor uns da vor? Gegen eine Rückbesinnung auf natürliche Anmut, in Zeiten des Schönheitschirurgie-Wahns, ist nichts einzuwenden. Auch die Zivilcourage als „Tugend des aufrechten Ganges“ lassen wir uns gern nachsagen oder gar die Freiheitsliebe: Am 9. November 1989 habe ganz Deutschland sie bewiesen. Danke! Aber Gemütlichkeit? Da zuckt der Weltbürger mal kurz zusammen: Häkeldeckchen-Alarm! Wenn aber Asfa-Wossen Asserate sein persönliches Prosit auf diese Eigenschaften singt, stimmt man doch ein. Sieht er ja in der Gemütlichkeit etwas „durchaus Widerständiges“, einen Protest gegen „die Rastlosigkeit und die Zumutungen unseres durch und durch ökonomisierten Alltags“. Darauf eine Tasse Ostfriesen-Tee!

An anderen Stellen räumt das Buch mit dem positiven Vorurteil, das wir selbst pflegten, gründlich auf. Erfindergeist, Qualitätsarbeit? Im 19. Jahrhundert waren deutsche Produkte in Großbritannien als „billig und schlecht“ verschrien. Auch bezichtigte man die Deutschen der Produktpiraterie, weil sie britisches Design nachbauten. Erst später wurde „Made in Germany“ zur Auszeichnung. So ist noch jedes nationale Klischee dem Wandel unterworfen. Zum Glück.

„Deutsche Tugenden“ ist bei C.H. Beck erschienen, hat 239 Seiten und kostet 17,95 Euro (E-Book: 13,99)