Essen. „Erzählen, was nur ich weiß“: Die 81-jährige Autorin Helga Schubert erinnert sich – und ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Als Helga Schubert im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, war sie mit 80 Jahren die älteste Teilnehmerin, die je in Klagenfurt las. Dabei war die Schriftstellerin schon in ihrem fünfzigsten Jahr eingeladen, durfte die Einladung jedoch nicht annehmen – die DDR verweigerte ihrer Autorin die Ausreise. „Vom Aufstehen“ hieß der Text, mit dem sie die Bachmann-Jury für sich einnahm und der nun gleichnamigem Erzählband den Titel gibt: „Ein Leben in Geschichten“; nominiert auch für den Preis der Leipziger Buchmesse. Ein späte Ehre dies alles für eine, die seit Jahrzehnten Romane veröffentlicht, und nun den des eigenen Lebens – eine Ehre vielleicht auch für dieses Leben selbst.
„Vom Aufstehen“: In dieser Erzählung spiegeln sich alle vorherigen, es geht um das ganz Wachwerden am Morgen, aber auch um den Aufstand des Volkes oder das Aufbegehren gegen familiäre Prägungen. Das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Enge hinter der Mauer und die Nacht ihres Falls – das Innere und Äußere, die Kindheit und die Politik, lassen sich so wenig trennen wie in jedem anderen Menschenleben auch. Dies so hinzunehmen, die Dinge in den Texten ineinanderfließen lassen, das macht die große Kunst dieses schmalen Buches aus.
Als Helga Schubert ein Jahr alt war, fiel der Vater im Krieg
Ein Sonntagskind war Helga am 7. Januar 1940, das sagte die Mutter ihr immer wieder. Als Helga ein Jahr alt war, fiel der Vater im Krieg. Später wird die Mutter ihr einbläuen (zur Not auch mit dem Kleiderbügel): Weder hat sie Tochter Helga abgetrieben, noch sie im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht zurückgelassen, noch sie erschossen, als die Russen einmarschierten. Du hast mir das Leben geschenkt, wird die erwachsene Helga später einmal sehr ungeduldig sagen, und es gibt ja auch noch anderes Gutes: Der Roller, den die Mutter ihr so spontan kaufte, grundlos. Die Gute-Nacht-Lieder, die sie plötzlich sang.
Vom Versöhnen: So hätte dieses Buch auch heißen können. „Mein Vater ist am 5. Dezember 1941 abends um neunzehn Uhr auf einem vereisten toten Arm der Wolga von einer Handgranate zerrissen worden und war sofort tot“, heißt es. „Es ist das Trauma meines Lebens.“ Aber: Jeden Sommer verbrachte Helga bei ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters. Die Hängematte im Garten, der Duft nach Kuchen, in ruhigen Sätzen schildert Helga Schubert das Idyll eines geliebten Kindes: „Bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“
Wenn sie über den Abend des Mauerfalls schreibt, dann ohne „Wahnsinn!“
Das Pathos, für das sie die Gesten und Symbole der DDR so verachtete, sie hat es ihrer eigenen Prosa gebändigt. Wenn sie über den Abend des Mauerfalls schreibt, dann ohne „Wahnsinn!“, denn der war ja schon vorher. Der Wahnsinn des Gedankens, „dass dies Leben in einem eingemauerten Land wirklich mein Leben ist, also kein Probeleben für ein normaleres späteres, ich hatte nur diesen einen Versuch.“
Und wenn Helga Schubert dann reisen dürfte, zieht sie in ein Bauernhaus in Mecklenburg. Hier liegt sie am Morgen im Bett, hier berichtet sie „Vom Aufstehen“: „Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlichen, eisigen Welt.“
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv Verlag, 224 Seiten, 22 €