Der französische Ökonom Thomas Piketty hält der Welt einen Spiegel vor: Die sozialen Ungleichheiten sind erdrückend und gefährden die Demokratie.

Wie viel Ungleichheit wollen wir noch akzeptieren? Wie viele armen Menschen braucht es in einer Gesellschaft, bis die Demokratie am Ende ist? Wie lässt sich rechtfertigen, dass ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung einen enormen Reichtum angehäuft hat und diesen effektiv zu verteidigen weiß?

Dass der Zins auf das Kapital in den vergangenen Jahrzehnten immer schneller gewachsen ist als das allgemeine Wirtschaftswachstum, hat der französische Ökonom Thomas Piketty bereits 2013 in seinem Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ dargestellt und auf die berühmte Kurzformel „r > g“ verkürzt. In seinem neuen Buch „Kapital und Ideologie“ beschäftigt sich Piketty mit der Kernfrage, warum die Entwicklung in den vergangenen Jahren so hat erfolgen können und warum die modernen Gesellschaften sich nicht dagegen wehren. Denn eines ist für Piketty ganz eindeutig: Die Ungleichheiten sind nicht naturgegeben und unumkehrbar, sie sind menschengemacht und sie sind die Folge von politischen Entscheidungen. Ergo: Man kann sie auch zurückdrehen.

Wachsende Ungleichheiten in der Gesellschaft

Die Problemanalyse Pikettys ist ernüchternd: Alle von ihm untersuchten Volkswirtschaften - vor allem die französische, englische und amerikanische - haben in den Nachkriegsjahren eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Gab es unmittelbar nach dem Krieg nur geringe Ungleichheiten in den untersuchten Gesellschaften, spreizt sich die Schere zwischen arm und reich in den 80er Jahren. Wesentlich für diese Entwicklung sind niedrigere Steuern auf Einkommen, Kapitalerträge und eine geringe Erbschaftssteuer. In den USA lag in den Jahren 1932 bis 1980 (also fast ein halbes Jahrhundert) die Einkommenssteuer in der Spitze bei 81 Prozent. Heute liegt sie bei unter 40 Prozent. Eine ähnliche Entwicklung gab es in Deutschland. Die Analysen Pikettys zeigen: Die wachsende Ungleichheit geht vor allem zu Lasten der ärmsten 50 Prozent. In den USA ging deren Anteil am Gesamteinkommen von 25 Prozent (1980) auf 10 Prozent (2018) zurück.

Die Politik kann einen anderen Weg einschlagen

Doch warum schaffen es die Eliten, dieses System der Ungleichbehandlung aufrecht zu erhalten? Piketty erläutert, dass jedes Ungleichheitsregime auf einer Ungleichheitsideologie beruht – auf einer Theorie der Grenzen und einer Theorie des Eigentums. Das Recht auf Eigentum wird in den westlichen Gesellschaften als sakrosankt betrachtet. Die Ungleichheiten heutiger Zeit seien zutiefst mit dem System der Nationalstaaten sowie politischer und sozialer Rechte verknüpft. Anhand ausführlicher historischer Studien führt Piketty seinen Leser zu den Ursachen dieser akzeptierten Ungleichheiten hin: Markt, Wettbewerb, Kapital und Schulden seien soziale und historische Konstruktionen, auf die man sich verständigt habe. Sie seien nicht naturgegeben.

Neben der zunehmenden Ungleichheit sei die Entwicklung der Sozialdemokratie von einer Arbeiterpartei zu einer Akademikerpartei politisch besonders fatal. Dies lasse sich in den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland beobachten. Die enttäuschten Arbeiter wenden sich an Vereinfacher und an Parteien, die eine Form des „Sozialnativismus“ (Piketty) bereit halten: Feindseligkeiten gegenüber Migranten und ein Bündel sozialpolitischer Maßnahmen, die zeigen sollen, dass man sich um die unteren Volksschichten kümmere. Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán fahren gut damit.

Leitet die Globalisierung den Zerfallsprozess der Demokratie ein?

Die soziale Frage ist für Piketty die entscheidende Frage für die Zukunft der Demokratie: „Wenn das heutige Wirtschaftssystem nicht zutiefst verwandelt wird, um es in den einzelnen Ländern, aber auch zwischen ihnen egalitär, gerechter und nachhaltiger zu machen, dann könnte es sein, dass der fremdenfeindliche „Populismus“ und seine möglichen Wahlerfolge es sind, die sehr bald die hyper-kapitalistische und digitale Globalisierung der Jahre 1990 bis 2020 in einen Zerfallsprozess treten lassen.“ Die Weltgeschichte der vergangenen drei Jahrzehnte habe gezeigt, dass der menschliche Fortschritt nicht linear verlaufe und dass es auch nicht allen Menschen durch freien Wettbewerb immer besser gehe.

Der Europäischen Union komme bei diesem Wandel eine wichtige Rolle zu. Piketty plädiert für gemeinsame Steuern (Körperschafts-, Einkommens- und Vermögenssteuer und eine CO2-Steuer) und auch ein Finanzsystem, das innerhalb der EU einheitliche Zinssätze für die Schuldentilgung garantiert.

Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 1312 Seiten. Beck-Verlag, 39,95 Euro.