„Feuchtgebiete“ ist eine Geisterbahnfahrt in den Intimbereich
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Essen.. Als Charlotte Roche ihr Buch „Feuchtgebiete“ veröffentlichte, war das wie ein literarisches Abtauchen in den Intimbereich. Natürlich wurde es ein Bestseller, niemand aber hielt eine Verfilmung für möglich. Der Regisseur David Wendt zeigt jetzt, dass es sehr wohl geht - ab 22. August im Kino.
Der erste Po in diesem Film, er ist gar keiner. Sondern ein gebeugtes Knie, dessen Rundungen und Hautfalten in der Nahaufnahme narren. Das Knie gehört zu einem Mädchen, das auf einem Skateboard durch die Stadt saust. Harmlos. Warum ist dieser Film ab 16? Aber dann wird es sehr rasch doch so, wie man dachte, dass es werden müsste: eklig und schamlos. Das Mädchen kratzt sich am Hintern, dringend muss sie die Zinksalbe auf ihre Hämorrhoiden auftragen. Also ab auf die öffentliche Toilette, barfuß durch die schleimigen Pfützen am Boden, ab auf die verschmierte Klobrille. Und schon saust die Kamera durch ein stark vergrößertes Bakterien-Biotop, begleiten grüne Monster eine Geisterbahnfahrt durch die Welt der Charlotte Roche.
Die Entdeckung des Lächelns
Zugegeben: Es gibt nicht wenige Szenen in der „Feuchtgebiete“-Verfilmung, vor denen man spontan die Augen verschließen möchte. Warum man es nicht tut? Weil diese Helen Memel, die wir uns bisher immer mit dem zöpfchenumrankten Gesicht von Charlotte Roche vorstellen mussten (eigens befeuert von Roches Einlassungen zum autobiografischen Gehalt ihres Bestsellers): Weil diese Helen so frech, so liebevoll und brutal lächelt wie eine Fünfjährige, die ihre Eltern schocken will.
Weil es wirkt, als hätte sie das Lächeln gerade eben entdeckt – ebenso wie das Sprechen. Die 27-jährige Carla Juri ist die große Überraschung dieses Filmes. Geboren im Tessin, spricht sie Deutsch mit einem leichten Akzent, der sie der Realität zu entrücken scheint. Wie auch ihre Ansichten über Sex und Hygiene nicht ganz von dieser Welt sind.
Bei der Intimrasur verletzt
Helen liegt im Krankenhaus, weil sie sich bei der Intimrasur verletzt hat – am Po. Die Analfissur hat sich entzündet, muss operiert werden. In Rückblicken erfahren wir, warum Helen wurde, was sie ist: Wie sie von ihrer peniblen Mutter (herrlich krampfig: Meret Becker) stets zur Sauberkeit ermahnt wurde. Wie ihr Vater (schön schmierig: Axel Milberg) ihr als Kind eher weh- denn guttat – sein liebevollstes Geschenk an die Tochter ist ein Avocadokern.
Wie ihre Eltern sich trennten, wie die heile, saubere Welt zusammenbrach. Nun züchtet Helen im Krankenhaus Avocadobäumchen, nervt den Chefarzt (Edgar Selge, großartig) und flirtet mit Pfleger Robin: Christoph Letkowski gelingt der Spagat, zugleich irritiert und interessiert zu wirken.
Gelsenkirchener Regisseur
Regisseur David Wendt, 1977 in Gelsenkirchen geboren, machte 2012 durch den Film „Kriegerin“ auf sich aufmerksam – darüber hinaus ist er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Ausgerechnet er wagte sich nun an den Stoff, den man ob der vielen Ekelstellen für unverfilmbar halten könnte.
Stärker noch als das Buch aber arbeitet der Film heraus, welche Sehnsüchte hinter Helens Gehabe liegen. Sie sind konservativ: So wünscht sie sich ihre geschiedenen Eltern wieder vereint und sieht in Pfleger Robin weniger einen erotischen Fang denn einen Retter – eine Art modernen Prinzen, dessen Kutsche ein alter VW-Bus ist.
Protestgesten einer Heranwachsenden
Die Momente, für die das Buch noch als „tabulos“ gefeiert wurde, scheinen nun reine – nein, unreine – Protestgesten einer Heranwachsenden. Sie richten sich weniger gegen den Hygienewahn der Zeit oder das weibliche Nett-Sein-Müssen denn gegen die elterliche Neigung, die dreckigen Momente des Lebens unter den Teppich zu kehren. Das macht die Story weniger grotesk und schockierend, aber letztlich auch kleiner und banaler.
In Erinnerung bleibt vor allem eins: das brutale Lächeln der Carla Juri, liebreizend und herausfordernd.
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