Essen. Die Mörder sind eitel. Das verrät schon die erste Einstellung: Mafiosi im Sonnenstudio. Ausgerechnet. Einer lässt sich die Nägel machen. Noch eitler die Jungen: Sie ballern mit Maschinengewehren am Strand entlang, sie tragen Basketball-Shirts und möglichst eine Pistole im Hosenbund.
Sie wollen werden wie die Großen, sie dienen sich den Bossen an. Den Bossen? Die gibt es auch in Scampia, dem Vorort von Neapel, dem größte Drogen-Umschlagplatz der Welt und Drehort. Aber was für schäbige Chefs das sind. Sie können töten, sie können befehlen, aber sie tragen weder feine Kleidung noch wohnen sie in Villen. Sie spielen in rauchigen Hinterzimmern Karten mit ihren Vasallen und verteidigen ihren kleinen Besitz wie die Kettenhunde.
Mafia ohne Mythos
„Gomorrha“ ist Mafia ohne Mythos, Elend ohne Glanz. Es ist meilenweit entfernt von den Hochglanz-Portraits der Organisation, die längst Bestandteil der Populärkultur geworden sind. Gomorrha zeigt das Fußvolk der Camorra, die in Neapel und Umgebung das Sagen hat. Es zeigt die Arbeiter, die eine Ausbildung durchlaufen, und dann ihrem ganz alltäglichen Job nachgehen. Sie haben häufiger mal ein Bündel Euro-Noten in der Hand, aber sie tragen die Kleidung der Armen, sie stehen auf billiges Bling-Bling, sie leben in Wohnsilos und sie fahren, wenn überhaupt, einen Kleinwagen. Manchmal, wenn sie jung sind, zitieren sie die Filme, die Mythen, um ihrem Alltag zumindest ein wenig von jenem Glanz zu verleihen, den er nicht eigentlich besitzt. Sie spielen „Scarface“ und schießen mit Platzpatronen. Sie werfen sich in Posen, die das Kino ihrem Leben zugedacht hat. Zuckerguss für die Realität und Fingerübungen für den ersten „echten“ Auftrag.
Es gibt Rückkopplungen zwischen filmischer Faszination und tatsächlicher Tristesse. „Nach Tarantino haben sie aufgehört, ordentlich zu schießen! Sie halten den Lauf nicht mehr gerade, sondern schräg und flach. Sie halten die Pistole genauso wie in diesen Filmen, und das hat verheerende Folgen. Sie schießen ihre Opfer in den Unterleib, die Leiste, die Beine und fügen ihnen schwere Verletzungen zu. Also sind sie gezwungen, das Opfer mit einem Genickschuss zu erledigen. Dabei wird sinnlos viel Blut vergossen, eine Barbarei, die dem Zweck der Exekution überhaupt nichts bringt“, schreibt Roberto Saviano in dem gleichnamigen Buch, das „Gomorrha“ zur Vorlage diente. Sie befruchten einander, Kino und Realität, und Gomorrha nimmt in diesem Dialog eine Zwitterposition ein.
Fiktion als Doku
Regisseur Matteo Garrone hat ein Drama gedreht, das zugleich Fiktion und Dokumentation ist, ein Werk, das sich eines Minimums an Schauspiel und Vorgabe bedient, um eine nacherzählte Wirklichkeit zu präsentieren. Garrone spricht von einer Wahrscheinlichkeit der Erzählung, die zu so etwas wie Realität führt. Diesem Anspruch wird „Gomorrha“ gerecht. Es ist ein sehr zurückhaltender Blick auf diese Menschen und dieses Leben, mit langen Einstellungen, die einen fast naturalistischen Blickwinkel schaffen. Ein Soundtrack wird nur sehr spärlich eingesetzt. Keine Chance für Kitsch und Legenden.
Der künstlerische Ansatz spiegelt sich im Drehbuch. „Gomorrha“ verfolgt keine einheitliche Handlung sondern begleitet fünf Personengruppen. Da ist der Buchhalter Don Ciro (Gianfelice Imparato), der Mitgliederfamilien ihr „Gehalt“ überbringt und der sich plötzlich im Krieg der Clans wieder findet, wo er doch nur sein beamtenhaftes Leben weiterführen wollte. Dann gibt es den Schneider Pasquale (Salvatore Cantalupo), der für bescheidenen Lohn Haute Couture herstellt und sein Gehalt mit geheimen Schneiderstunden für die chinesische Konkurrenz aufbessert. Und es gibt die Jungen: Totò (Salvatore Abruzzese), der beinahe unschuldig die ersten Schritte einer vorgezeichneten Laufbahn einschlägt und die beiden Querschläger Marco (Marco Macor) und Ciro (Ciro Petrone), die sich den Bossen nicht fügen wollen, sondern mit ihrer Einmischung in deren Deals gleich ganz nach oben wollen. Den Mächtigen sind die beiden Maulhelden allerdings in keiner Weise gewachsen und so liegen sie zum Schluss erschossen am Strand. Und schließlich Roberto (Carmine Paternoster), dem sein Job als Gehilfe des ebenso smarten wie kriminellen Geschäftsmannes Franco (Toni Servillo) eine gesicherte Zukunft bescheren soll.
Von diesen sieben Figuren wird einer zum Verräter, zwei sterben, zwei verweigern sich dem System, einer endet als nervliches Wrack. Nur einer bleibt ganz unberührt vom Bandenkrieg: Geschäftsmann Franco, tätig im Geschäft mit dem Giftmüll, ist klug genug, um sich zu halten.
Episodenhafte Handlung
Die episodenhafte Erzählmanier trägt sicher zum Dokumentarcharakter des Films bei, sie verhindert die unwillkürliche Identifikation mit Held oder Anti-Held. Aber wenn dieser Film eine Schwäche hat, dann ist es seine Zersplitterung in so viele Handlungsstränge. Dem Verständnis steht diese Form nicht im Wege, zumal sich diese Stränge immer wieder kreuzen und verweben und die Figuren schlüssig entwickelt sind.
„Gomorrha“ ist ein Film, der mit den Mitteln des Dramas Wirklichkeit schafft, wo der Blick auf reale Personen und Handlungen durch genau die Verhältnisse verstellt ist, die er dokumentiert. Matteo Garrone hat diesen Widerspruch elegant aufgelöst, auch durch sorgfältige Recherche, Drehs an Originalschauplätzen in Neapel und Einbeziehung der Menschen dort. Ein bestürzender Film, weniger wegen der Schicksale, die er abbildet, als wegen des Systems, das er nachzeichnet. Aber, deutlich, ein informativer, kein emotionaler Film.