Essen. . Man weiß nicht viel über das Leben an der estnischen Ostsee kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. „Poll“, der neue Film von Chris Kraus („Vier Minuten“), schildert genau jene Zeit, hat Mut zum großen Epos und mit Edgar Selge und Paula Beer zwei starke Hauptdarsteller.

Man weiß nicht viel über das Leben an der estnischen Ostsee kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Der Film „Poll“ von Chris Kraus schildert jene Zeit, hat Mut zum großen Epos und mit Edgar Selge und Paula Beer starke Hauptdarsteller.

Chris Kraus hat wahrlich Mut. Vielleicht sind es die über 50 Preise, die der Regisseur mit seinem letzten Film „Vier Minuten“ international gewonnen hat. Jedenfalls ist sein neues Werk „Poll“ etwas nicht Alltägliches im nationalen Film: mit Mut zur Länge (133 Minuten), zu einem noch wenig bekannten historischen Thema und mit der Kraft für wunderbar große Bildpanoramen vom Leben am estnischen Ostseestrand kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs.

Hier reist zu Beginn des Films die 14-jährige Oda an, im Gepäck den mit Eis gekühlten Leichnam ihrer Mutter. Hier auf dem Gut Poll wollte sie begraben werden, hier wo ihr ehemaliger Gatte Ebbo von Siering mit seiner zweiten Familie wohnt. Es ist eine Zeit des Umbruchs in dieser russischen Provinz. Beherrscht wird sie noch von den den Sippen der Deutsch-Balten, doch russisches Militär muss bereits dafür sorgen, dass estnische Anarchisten und Separatisten die Macht nicht an sich reißen.

Für den Schauspieler Edgar Selge scheint dieser Ebbo die Rolle seines Lebens zu sein. Er spielt hier einen verborten Gehirnchirurgen, der immer neues Material für den Seziertisch braucht und deshalb froh ist, dass die russischen Soldaten ihn fortlaufend mit den Leichen von Aufständischen versorgen. Sollte einer noch zucken auf dem Tisch, dann hilft der von der Universität verwiesene Arzt gern mit der finalen Spritze nach. Selge füllt diesen widersprüchlichen Charakter grandios aus, ist mal Beinahe-Frankenstein, mal brutaler Ehemann, dann auch gelegentlich liebevoller Vater. Obwohl Tochter Oda ihm im Vergleich zu seinen Reagenzgläsern und deren schaurigen Inhalt herzlich gleichgültig ist.

Ein verletzter Anarchist

Dass die junge Paula Beer als Oda neben diesem Schauspieler bestehen kann und letztlich den Film auch weitgehend schultern muss, zeigt die starke Begabung dieses Mädchens, das Regisseur Kraus aus 2500 Bewerberinnen auswählte. Für Oda beginnt das große Abenteuer, als sie einen verletzten Anarchisten entdeckt, ihn in der Scheune oberhalb des väterlichen Laboratori­ums versteckt und damit endlich eine Aufgabe im öden Landleben gefunden hat. In der Beziehung, die sich zwischen Oda und ihrem Pflegefall entwickelt, ist zunächst nur Abenteuerlust zu spüren, später auch die ersten romantischen Gefühle einer Heranwachsenden. „Schnaps“, wie sie ihn nennt, macht sie mit der Schriftstellerei bekannt und entzündet damit ein verborgenes Feuer. Am Ende ist der Teenager fest entschlossen, mit ihrem Esten zu fliehen.

Diese Oda ist der eigentliche Schlüssel für das, was Chris Kraus an diesem Stoff gereizt hat. Denn Oda Schaefer ist Familie, genauer gesagt die Großtante des Regisseurs, die in den 1950er-Jahren eine gewisse Bekanntheit als Lyrikerin erlangt hat. „Poll“ verdichtet eine zentrale Lebensepisode dieser kommenden Dichterin vor dem Hintergrund einer dem Untergang geweihten Gesellschaft. Die Bilder wiegen noch in Sicherheit, etwa wenn die Abendsonne in der Ostsee versinkt und dabei das ins Meer gebaute Haupthaus des Gutes in mildes Licht taucht.

Hollywood würde jubeln

Hinter der Schönheit und den friedvollen Pick­nicks am Strand brodelt es jedoch privat. Ebbos weltfremde Frau Milla, der Jeanette Hein aristokratische Züge verleiht, betrügt den Gatten seit langem schon mit dem Verwalter Mechmershausen (Richy Müller). Ebbo straft die Gemahlin, indem er sie vergewaltigt; ihr Liebhaber steckt daraufhin hasserfüllt das Le­benswerk des Hirnforschers in Brand.

„Poll“ ist das, was man in Hollywood ein Epic nennen und bejubeln würde. Es hätte dann sicherlich sehr viel mehr Sentimentalität und längst nicht derart gebrochene Charaktere. Vor allem aber wäre da nicht die Leidenschaft zu spüren, mit der Chris Kraus und seine bemerkenswerte Kamerafrau Daniela Knapp dieses starke Stück Kino realisiert haben.