Berlin. 1968 brachte Edgar Reitz einer Mädchenklasse bei, wie man Filme dreht. 55 Jahre später hat er sie wiedergetroffen: „Filmstunde_23“.

Es ist schon absurd. Heutzutage wächst kein Kind mehr ohne Filme, Social Media und Youtube auf. Aber noch immer werden sie dabei nicht an die Hand genommen, um ein Gespür dafür zu bekommen und kritisch mit dem Medium umzugehen. Dabei hat der ungarische Filmtheoretiker Béla Balasz schon vor gut 100 Jahren gefordert: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“

Auch 55 Jahre danach immer noch eine Pionierleistung

Einer, der das ändern wollte, war Edgar Reitz. Und das ist auch schon über ein halbes Jahrhundert her. Im Münchner Luisengymnasium gab er 1968 vier Wochen Filmunterricht in einer Klasse für 13- bis 14-jährige Mädchen, sprach mit ihnen über die Sprache des Films und brachte ihnen bei, mit Super-8-Kameras eigene Filme zu inszenieren.

Um aufzuzeigen: Jeder Mensch kann Filme machen, jedes Kind kann das erlernen. Die Ergebnisse diskutierte er dann mit den Filmdebütantinnen und ihren Lehrern und Eltern. Daraus entstand der Fernsehfilm „Filmstunde“, der noch im selben Jahr im Bayerischen Rundfunk gesendet wurde.

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Reitz wurde später, nicht zuletzt dank des legendären „Heimat“-Serienprojekts, einer der versiertesten deutschen Filmautoren. 55 Jahre später wurde er von einer der Schülerinnen, mit denen er seither keinen Kontakt mehr gehabt hatte, angesprochen. Und so entstand ein spätes Wiedersehen, ein Klassentreffen 2023. Und auch daraus hat der damals 90-Jährige wieder einen Dokumentarfilm gemacht: „Filmstunde_23“, der vergangenes Jahr auf der Berlinale seine Premiere erlebte.

Der Beweis: Jeder kann Filme drehen, jedes Kind kann das lernen

Die neuen Begegnungen mit den Damen um die 70 hat er mit den Aufnahmen von einst montiert. Es ist sehr hübsch, wie Reitz damals, mit 35 Jahren, für heutige Verhältnisse doch recht trocken am Pult steht und fast unausweichlich in die Rolle des Pädagogen rutscht. Hübsch aber auch, wie die älteren Damen von heute sich in ihrem jüngeren Ich wiedererkennen. Sie alle gestehen, teils voreinander, teils im Einzelgespräch mit Reitz, wie sehr sie die Erfahrung zusammengeschweißt hat. Und wie wichtig Filme in ihrem Leben wurden.

Die 13-, 14-Jährigen taten sich in kleine Gruppen zusammen, um eigene Filme zu inszenieren.
Die 13-, 14-Jährigen taten sich in kleine Gruppen zusammen, um eigene Filme zu inszenieren. © © Thomas Mauch | © Thomas Mauch

Sie alle staunen, dass der Unterricht nur vier Wochen gedauert haben soll; sie hatten ihn viel länger in Erinnerung. Denn es war, da sind sich alle Damen einig, ihre wichtigste und prägendste Erfahrung in der ganzen Schulzeit. Weil Reitz nicht irgendein Lehrer war, der nur den Lehrplan abspulte. Sondern ihnen einen neuen Blick auf sich und die Welt beibrachte. Und als erster und einziger mit den Teenagern darüber sprach, was sie dachten und fühlten: Film als Ausdrucksmittel zur individuellen Selbstfindung.

Der Traum von Reitz, dass es bald in jeder Schule regulären Filmunterricht geben sollte, hat sich dagegen bis heute nicht erfüllt. Obwohl das in Zeiten von Fake News, Mockumentarys und Deep Fakes wichtiger denn je wäre. Ob die Bildungspolitik da je umdenken wird? Der Film sollte vor allem auch ein Lehrfilm für jene sein, die darüber zu befinden haben.

Dokumentarfilm, Deutschland 2024, 89 min, von Edgar Reitz