Essen. In seinem ausgezeichneten Film „Das weiße Band” erzählt Michael Haneke in meisterhaften Schwarz-Weiß-Bildern von den Auswüchsen jugendlicher Gewalt und dem Terror, der durch autoritäre Unterdrückung entsteht - ein Sittengemälde, das weit über seine Zeit und die Umstände hinaus weist.

Die guten alten Zeiten, sie entpuppen sich in diesem Film als grausame und gefährliche Zeiten. Das liegt nicht nur daran, dass der Erste Weltkrieg bevorsteht und die heranwachsenden Söhne des protestantisches Dorfes Eichwald in der norddeutschen Tiefebene bald an die Front holen wird. Überhaupt lauert die Gefahr in jedem Winkel dieses verschlafenen Örtchens, in dem ein strenger Glaube und eine strikte gesellschaftliche Rangordnung Ordnung und sozialen Frieden garantieren sollen. Stattdessen erleben wir Missbrauch, Hass und Missgunst.

Schikaniert, misshandelt, blutig geschlagen

In meisterhaftem Schwarz-Weiß zeichnet Michael Haneke ein Sittengemälde, das weit über seine Zeit und seine Umstände hinausweist. © X Verleih AG
In meisterhaftem Schwarz-Weiß zeichnet Michael Haneke ein Sittengemälde, das weit über seine Zeit und seine Umstände hinausweist. © X Verleih AG © X Verleih | X Verleih





Gleich zu Beginn verunglückt der Dorfarzt beim Ausritt mit seinem Pferd, das über eine gespannte Leine stolpert. Und während die Dörfler noch über diesen heimtückischen Anschlag rätseln, passieren die nächsten Unglücke: Eine Frau stirbt bei der Arbeit im Sägewerk, der Mann erhängt sich im Heuschober, nachts brennt die Gutsscheune nieder. Und ein Sittich wird gekreuzigt. Dann wird der Sohn des Baron halbnackt im Wald gefunden. Schikaniert, misshandelt, blutig geschlagen. Von den eigenen Spielkameraden?

Wem in diesem Moment der Fall Kassandra in den Sinn kommt, der wird erkennen, dass der österreichische Regisseur Michael Haneke („Cache´”´, „Funny Games”) mit „Das weiße Band” kein historisches Spitzenkragen-Schauerstück aus dem vergangenen Jahrhundert schildert. Dieses ungemein formbewusste, in meisterhafte Schwarzweiß-Bilder gefasste Sittengemälde weist weit über seine Zeit und die Umstände hinaus und erzählt mit der Off-Stimme des Lehrers von den Auswüchsen jugendlicher Gewalt und dem Terror, der durch autoritäre Unterdrückung entsteht.

Beklemmendes Psychodrama




„Eine deutsche Kinderschichte” hat Haneke sein beklemmendes Psychodrama untertitelt, in dem sich die calvinistische Strenge und Entsagung in jeden Blick, in jede Bewegung gebrannt zu haben scheint. August Sanders berühmtes Fotobuch „Menschen des 20. Jahrhunderts” kommt einem in den Sinn, wenn man in die versteinerten Gesichter von Hanekes exzellenten Darstellern schaut. Susanne Lothars ausgebranntes Hebammen-Antlitz, Josef Bierbichlers sturer Gutsverwalter-Blick und die eisig-autoritäre Miene des Dorfpfarrers (Burghart Klaußner), der seine Kinder mit Gürtelhieben und weißem Seidenband erzieht. Das Band soll symbolisch die Sünde und Selbstsucht fernhalten und den pubertierenden Sohn nachts zwingen, seine Hände über der Bettdecke zu halten.

Das pervertierte Ideal der jugendlichen Unschuld wird hier mit allen Waffen verteidigt. Selten hat man dabei in so ernste, verhärmte Kindergesichter gesehen, die Haneke wie eine gespenstische Täter-Gemeinschaft zeichnet, die ihre Opfer entweder schon gefunden hat oder später in den Zeiten des Faschismus finden wird.

Die konkrete Aufklärung der Verbrechen bleibt dabei zweitrangig. Haneke geht es nicht um einen abgeschlossenen Krimiplot, sondern einmal mehr um das Gefühl der allgemeinen Verunsicherung. In Cannes wurde sein starkes Werk mit der Goldenen Palme belohnt. Als nächstes soll „Das weiße Band” für Deutschland ins Oscar-Rennen ziehen.