Oberhausen.

In Oberhausen kann man sehen, wie junge Männer Elektroschock-Pistolen an sich selbst ausprobieren und kann nachfragen, was Künstler sich eigentlich dabei denken. Bei den 56. Kurzfilmtagen gibt’s Kunst, Kommunikation, und mit dem MuVi auch schon den ersten Preis.

Da ist er wieder, der Typ, der sich die langen Haare zu einem Dutt knotet. Die von der Insel, die auf seinem sonst kahl rasierten Schädel stehen geblieben ist. Das Gegengewicht ist der Bart, der bis zur Brust reicht, und es ist nur eine Variante von vielen abenteuerlichen Stylings, die das Gucken so aufregend machen in Oberhausen. Oberhausen? Ach ja, da war noch was: Internationale Kurzfilmtage, die 56., bei denen es mindestens so Aufregendes zu sehen gibt, wenn das Licht ausgeht und der Sitznachbar im Festival-Kino nicht mehr auszumachen ist.

Aufgeregt waren Samstagabend bestimmt die Clip-Regisseure: Seit 1999, als die Kurzfilmtage den MuVi für das beste deutsche Musikvideo einführten, bekommen sie den ersten Preis des Festivals. Auf dem ersten Platz (2500 Euro) sah die Jury „diskussionslos“ Sönke Held für „Lightning Strikes“ von Felix Kubin - weil darin „wie in keinem anderen Video der Auswahl eine eigene, geschlossene Welt erschaffen“ werde.

Publikumspreis für Gitti & Kitti

Den zweiten Preis (1500 Euro) bekamen Felix Hüffelmann und Philipp Frowein für ihren Clip „Bit by Bit“ zur Musik von Comfort Fit, „weil ihr Video ein schönes Beispiel für das stringente Umsetzen einer einfachen Idee ist“. Platz drei (1000 Euro): Carsten Nicolai und Simon Mayer für „u_08-1 (future past perfect pt.3) von „alva noto“ featuring Anne-James Chaton; den beiden Regissieuren gelinge es „auf spielerische Art und Weise, eine beispielhafte Verzahnung von Bild und Musik“ herzustellen. Die Gewinnerinnen des MuVi-Online bestimmte das Publikum per Voting: Er geht an Gitti & Kitti für „Lifeguide“ von den „Pappkameraden“.

Nicht nur beim MuVi haben die Kurzfilmtage Ausgefallenes zu bieten. Wer hätte gedacht, dass ein experimenteller Dokumentarfilm informativ, witzig und berührend sein kann? “Gesang der Jünglinge” haben Andree Korpys und Markus Löffler ihren Film betitelt. Was die Männer sagen, worüber sie lachen und warum sie stöhnen lässt sich erst einordnen, als die Kamera die Zuschauer um die Ecke blicken lässt. Wir sind bei einer “Taser”-Schulung: Hier erfahren Polizisten und Justizvollzugsbeamte am eigenen Leib, wie sich das anfühlt, mit einer Elektroschock-Pistole beschossen zu werden.

Geschichten von jungen Männern

Das hat viel von Mutprobe und Initiationsritus, aber Korpys und Löffler machen auch die Unmenschlichkeit des Geräts offenbar - und aus alledem Kunst, unterlegt mit Karlheinz Stockhausens “Gesang der Jünglinge”. Sowas kann man im Deutschen Wettbewerb der Kurzfilmtage sehen.

Da läuft aber auch der Spielfilm “Amerika” von Eldar Grigorian, der in sieben Szenen und grobkörnigem Schwarz-Weiß die so lustige wie traurige Geschichte von drei jungen Männern mit Migrationshintergrund erzählt. Und wer mehr darüber wissen will, geht anschließend zur Diskussion im “Festival-Space”: Dort erzählen die Filmemacher aus aller Welt, warum sie was wie gemacht haben. Das ist oft sehr überraschend - weil man erfährt, dass manches gar nicht kompliziert interpretiert werden muss, sondern ganz banale Gründe hat. Oder weil der Künstler eine seine Intention erklärt, auf die man allein nie gekommen wäre.

Familienfreundlicher Sonntagmorgen

In diesem Raum, einem nicht vermieteten Ladenlokal an der Elsässer Straße, auf der Oberhausen während dieser paar Tage im Mai wieder zur Weltstadt wird, in diesem Festival-Space wird viel diskutiert. Nirgends, sagen kenner, tauschten sich Festivalbesucher so intensiv aus wie in Oberhausen. Jeden morgen bis 4. Mai noch auf dem Podium.

Sonntag geht’s familienfreundlich ab 10 Uhr um “Kinder und bewegte Bilder”, Samstag war “Die Illusion des Ich” im Film Thema; das mag kompliziert klingen, hat aber so viele Besucher interessiert, dass die Konzentration ganz viel Sauerstoff brauchte und die Luft nach einer Stunde schon zum Schneiden war. Wie die Quiche auf dem Tisch neben der Tür: Die oft vom anderen Ende der Welt angereisten Gäste der Kurzfilmtage bekommen hier kleine Stärkungen, damit sie den Kurzfilm-Marathon durchstehen.

Den laufen in Oberhausen Künstler und Festivalmacher, Film-Verrückte, Kuratoren, Journalisten und andere Autoren: Wenn man könnte, könnte man am Wochenende mit nur kurzen Unterbrechungen von 10.30 Uhr morgens bis Mitternacht kurze Filme gucken - und hätte nur einen kleine Teil der 490 Kunstwerke gesehen, die in diesen fünf Tagen präsentiert werden. Vor jedem Programm läuft der speziell fürs Festival gedrehte Trailer mit der Nackten, die eindringlich in die Kamera fragt: “Can you see me? Can you SEE me?” Schon, vor allem, wo hier so viele Menschen so wahnsinnig besondere Brillen tragen - riesig, dick, leuchtend bunt oder tiefschwarz. Dazu werden Leoparden-Strümpfe getragen und/oder feuerrote Chucks, geblühmte Kleider und/oder Cordhosen, Dreadlocks, tiefe Scheitel und/oder Taschen in Regenbogen-Farben, Blusen mit unvorstellbaren Mustern oder leicht entflammbare Trainingsjacken. Ganz heißer Scheiß hier, das merkt man auch daran, dass schon bei einigen das Deo versagt hat - bei 17 Grad Außentemperatur! Egal, Augen auf und durch: Bis zur Preisverleihung am Dienstag, 4. Mai, gibt’s noch so viel zu sehen.

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