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Distinguierter Gentleman? Nicht dieser „Sherlock Holmes“! Unter Guy Ritchies Regie und in der Darstellung von Robert Downey Jr. wird der Detektiv zum unordentlichen Action-Held, der sich zur Entspannung prügelt.

Die Liebhaber all der altbekannten Plüschverfilmungen des Sherlock-Holmes-Stoffes werden zunächst irritiert den Kopf schütteln. Denn in Guy Ritchies Action-betontem „Sherlock Holmes”-Film haben sie auf den ersten Blick nicht mehr viel Vertrautes, an dem sie sich orientieren können.

Das fängt schon bei Holmes’ Wohnung in der Londoner Baker Street 221 B an. Hier haust der bekannteste Detektiv der Literaturgeschichte in einem Wust von Staub, Unordnung und Schmutz. Aus diesem Chaos heraus schält sich mit Robert Downey Jr. eine höchst ungewöhnliche Holmes-Verkörperung. Das ist kein distinguierter Gentleman mehr, der vor Verlassen des Hauses den Tweed anlegt und den Deerstalker-Hut aufsetzt, das ist schon vom Äußerlichen her ein zerzauster Held, der sich im Vertrauen auf seine körperlichen Kräfte auch den überlegensten Gegnern zum Kampf stellt. Überhaupt liebt er das Körperliche: Wenn dieser Holmes frustriert ist, etwa wenn sein Freund Dr. Watson (Jude Law) nun doch endlich heiraten will, dann besucht er einen Fight Club. Da kann er alles herauslassen, bis dass das Blut spritzt.

Ein Ritualmörder metzelt junge Damen im viktorianischen London

Doch eigentlich ist die Deutung Ritchies und seiner drei Drehbuchautoren gar nicht so abwegig. Unser Bild von Holmes wurde hauptsächlich durch das Kino geprägt und durch die vornehmlich aristokratische Darstellung, die der Detektiv dort erfahren hat. In den vier Romanen und 56 Erzählungen des Schöpfers Sir Arthur Conan Doyle schillert dieser „Beratende Detektiv“ viel stärker. Dort findet sich nicht nur seine notorische Unordnung beschrieben, dort ist auch die Rede davon, dass er den Kampf mit den Stöcken ebenso beherrscht wie den mit dem Schwert - und dass er auch im Boxring seinen Mann stehen kann. Aber natürlich hätte sich Conan Doyle niemals zur Schilderung jener halsbrecherischen Momente aufschwingen können, wie sie in diesem manchmal sehr lautstarken Film zu sehen sind.

Es ist eine düstere Geschichte, die hier im viktorianischen London der 1890er-Jahre abrollt. Der Ritualmörder Lord Blackwood (Mark Strong) hat bereits fünf junge Damen in satanischen Messen gemetzelt. Der Film beginnt, als Holmes und Watson das sechste Opfer gerade noch retten und den Killer dingfest machen können. Der aber sieht auch nach dem Todesurteil heiter in die Zukunft: Die bösen Mächte seien mit ihm, drei Opfer werde es noch geben und er selbst käme aus dem Totenreich zurück. Die Prophezeiungen erfüllen sich alle, aber Holmes zweifelt denn doch sehr an den Kräften des Übernatürlichen. Als Mann der Ratio sucht er nach natürlichen Erklärungen für das Schreckliche.

Die Magie des Kinos ist spürbar

Ritchie hat seinen Film trotz all der Bilderstürmerei fest im Holmes-Kosmos verankert. Die notorische Gesetzesbrecherin Irene Adler (Rachel McAdams) taucht auf und mit ihr die Erinnerung an Holmes’ einzige Leidenschaft im Hinblick auf das andere Geschlecht. Inspektor Lestrade (Eddie Marsan) darf nicht fehlen, der bei Holmes stets zwischen Dankbarkeit und Frust schwankt. Schließlich taucht auch Professor Moriarty auf, Holmes’ ewige Nemesis, und macht deutlich, dass dieser Film zwingend einer Fortsetzung bedarf.

Derweil toben Holmes und Jude Laws treffliche Neuinterpretation des Dr. Watson durch ein historisches London, das in den Bildern von Kameramann Philippe Rousselot manchmal wirkt, als sei es detailverliebten Comic-Zeichnungen entsprungen. Auf der im Bau befindlichen Tower Bridge schließlich hält der Film in luftiger Höhe für das große Finale inne - zwei Männer, eine Frau und all die Unwägbarkeiten einer derart gigantischen Baustelle. Es sind nun keine dunklen Mächte mehr im Spiel, nur noch die Magie des Kinos ist spürbar.