Berlin.

Wenn man sich am Wochenende den Wecker auf 6.45 Uhr stellt, um sich an einem weiteren trüb-kalten Wintertag um neun Uhr im Kino eine rumänisch-schwedische Koproduktion anzuschauen, dann ist – Berlinale. „Neugier ist der Weg zu echter Kreativität“ tröstet einen täglich ein Plakat auf dem Weg zum Festivalkino. Und neugierig wollen wir ja nun wirklich sein bei solchen Filmfestspielen, die uns die Welt spiegeln sollen mit ihrer Auswahl von Wettbewerbsbeiträgen aus aller Herren Länder.

Um es gleich zu sagen: Es sieht nicht gut aus auf der Welt, vor allem nicht in Europa. Dieser rumänische Film von Florin Serban beispielsweise, dessen Titel übersetzt „Wenn ich pfeifen möchte, pfeife ich“ lautet, erzählt von einem jungen Mann, der mit einem Mädchen einen Kaffee trinken gehen möchte und sich damit seine ganze Zukunft verbaut. Man sollte erwähnen, dass Silviu in einem Jugendknast sitzt, das Mädchen als Geisel hält und gerade einen Wärter schwer verletzt hat. Und das alles fünf Tage vor seiner Entlassung.

Aber die Tatsache, dass die pflichtvergessene Mama wieder aufgetaucht ist, um Silvius kleinen Bruder mit nach Italien zu nehmen, hat den Jungen einfach durchdrehen lassen. In einer zerstörten Familie mit schwer krankem Vater und einer sich prostituierenden Mutter war das Kümmern um den Bruder so etwas wie der letzte Halt im Leben dieses jungen Mannes.

Im Großteil der Wettbewerbsfilme dieses Jahrgangs gehe es um Familien, hatte Festivalchef Dieter Kosslick angekündigt. Bisher allerdings geht es eher um die Ruinen von Familien. In Thomas Vinterbergs dänischem Beitrag „Submarino“ säuft die Mutter sich besinnungslos, ist der Vater unsichtbar, sind die beiden kleinen Brüder ganz auf sich gestellt. Als ihnen jedoch das Baby stirbt, um das sie sich rührend kümmern, weil die Mutter es verwahrlosen lässt, ist auch hier jede Zukunft dahin. Vinterbergs unbedingter Realismus konfrontiert uns schließlich mit dem Ergebnis: einem innerlich schier verknoteten Trinker und einem Heroinsüchtigen, der sich verzweifelt bemüht, seinen kleinen Sohn alleinerziehend durchzubringen. Ein konsequenter Film immerhin über zwei Ertrinkende in einer anteilsarmen Gesellschaft.

Michelle Williams, Sir Ben Kingsley, Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio.
Michelle Williams, Sir Ben Kingsley, Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio. © AP

Leonardo DiCaprio hat in Martin Scorseses Mystery-Thriller „Shutter Island“ keinen Bruder, aber richtig gut geht es auch ihm nicht. Als US-Marshal Teddy Daniels soll er 1954 mit einem neuen Kollegen auf einer Insel für geisteskranke Gewaltverbrecher vor der Küste Bostons den Fall einer spurlos verschwundenen Insassin bearbeiten. Teddy schleppt zwei Traumata mit sich herum, die ihn in Flashbacks heimsuchen: seine Beteiligung an der Befreiung des KZ Dachau und der Flammentod seiner Ehefrau.

Von Anfang an lässt Scorsese keinen Zweifel daran, dass er den Zuschauer auf einen Horrortrip schicken möchte. Schon die düsteren Streicher-Schübe des Soundtracks lassen dieses Shutter Island wie die Heimat King Kongs erscheinen. Das Gemäuer der forensischen Klinik und die Ärzte (Ben Kingsley, Max von Sydow) nähren die Erinnerung an verrückte Wissenschaftler in den B-Movies der 40-er und 50-er Jahre. Der Film ist außerdem ein Betrug durch und durch: Das Wachpersonal betrügt die US-Marshalls, Teddy betrügt sich selbst und der Regisseur den Zuschauer. Es ist ein Puzzle, an dem man arbeiten sollte, will man nicht am Ende durch eine Falltür ins Bodenlose stürzen.

Wie bei Scorsese nicht anders zu erwarten, ist dies ein Film von großer kinematographischer Sorgfalt, die Einstellungen zeugen von einer profunden Kenntnis des Kinos. Leonardo DiCaprio, der hier bereits zum vierten Mal mit Scorsese zusammengearbeitet hat, ist seinem Mentor dafür unendlich dankbar. „Marty hat so eine ansteckende Liebe zum Kino“, erklärte er bei der Pressekonferenz. „Er ist fraglos der beste Regisseur unserer Zeit.“ Und auch Scorsese bereut die zehn Jahre mit DiCaprio seit „Gangs of New York“ nicht: „Ich habe einen jungen Mann dabei begleitet, schließlich ein großer Schauspieler zu werden.“ In „Shutter Island“ bekommt man viel davon zu sehen.