Essen. Wie fühlt man sich in eine Frau ein, die vor fast 1000 Jahren gelebt hat? Schauspielerin Barbara Sukowa, die in "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen" die Benediktinerin spielt, spricht im Interview über Glauben, Meditation und das veränderte Körpergefühl unter einer Nonnentracht.
Barbara Sukowa spielt in "Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen" unter der Regie von Margarethe von Trotta die Benediktinerin aus dem 12. Jahrhundert. Hildegard von Bingen gilt als erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters. Die Äbtissin verfasste Schriften über Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie.
Wer Visionen hat, sollte lieber gleich zum Arzt gehen, hat Alt-Bundeskanzler Schmidt einmal gesagt. Fehlt uns heute die Vorstellungsgabe?
Barbara Sukowa: Wir sind mit dem Begriff in Deutschland ja vorsichtig, weil zumindest meine Generation so ungern mit Leitbildern zu tun hat. Außerdem gab es natürlich viele Visionen, die gescheitert sind. Da werden die Leute skeptisch. Amerika und Obama, das war zuletzt wieder der Moment einer Vision von einer besseren Welt.
Einerseits erleben wir die Abkehr von Religion, andererseits die Hinwendung zum Spirituellen. Wo trifft man Sie?
Sukowa: Durch den Film habe ich mich wieder verstärkt mit dem Phänomen des Glaubens beschäftigt und auch viele neurowissenschaftliche Bücher gelesen. Ich selbst sehe mich oft in einem Konflikt. Mal empfinde ich sehr stark, mal bin ich ganz rausgeworfen aus dem Glauben: wenn man Tod sieht, körperlichen Verfall. Davon hab' ich im letzten Jahr privat sehr viel mitbekommen.
Wie nah kommt man einer Figur, die fest in der Gedanken- und Glaubenswelt des 12. Jahrhunderts verankert war?
Sukowa: Man kann sich letztendlich nicht in einen Menschen versetzen, der vor 1000 Jahren gelebt hat. Da müsste man so viel aus seinem Kopf eliminieren an Geistesgeschichte, an Historie, an Wissen. Hildegard von Bingens Schriften sind auch nicht einfach zu lesen. Über die Briefe kommt man ihr am nächsten. Freundschaft, Tod – mit diesen Themen schafft man Verbindung. Ich hab' mir auch vorgestellt, wie diese Frau einen Konzern leitet: Die Klöster zu gründen und zu führen, da gehörte ja auch Logistik und Strategie dazu.
Was verändert die Nonnentracht?
Sukowa: Sie gibt einem schon eine Distanz zur Welt und eine gewisse Schwere. Das liegt allein am dichten Stoff. Ich hab' mich darunter auch geborgen gefühlt und fand es ganz schön, dass mein Körper nicht immer dem Blick der Welt ausgesetzt war. Es wird ja viel über die Burka diskutiert – und sie als Gefängnis beschrieben. Das wird sicher so sein, wenn sie zum Zwang wird. Aber manchmal fände ich das – freiwillig getragen – sogar ganz angenehm.
Leben wir Europäer letztlich nicht auch mit einer bestimmten Kleiderordnung?
Sukowa: Die ist natürlich subtiler, aber fast brutaler. Eine ältere Frau weiß plötzlich nicht mehr, was sie tragen kann. Dazu kommen Fragen wie: Darf man mit 60 noch lange Haare haben? Trägt man BH? Was ich ja so erstaunlich finde nach dem ganzen Feminismus. Seit wir endlich frei sind, fangen die Frauen an, sich ins Gesicht schneiden zu lassen.
Das Zusammenspiel von Körper und Geist ist ein wesentlicher Punkt der Philosophie der Hildegard von Bingen. Leben Sie selbst danach?
Sukowa: Das ist mein Beruf. Schauspielern hat ja eigentlich nur damit zu tun: mit dem Zusammenspiel von Körper und Geist. Aber ein Wunsch hat ganz konkret mit dem Film zu tun: Ich würde gerne das Meditieren lernen. Ich habe das einmal mit Hannelore Elsner in San Francisco ausprobiert. Sie kannte dort ein buddhistisches Kloster. Ich hatte ein bisschen Angst, aber wir durften dort bequem mit Kissen unter den Knien meditieren. Danach fühlte ich mich so ruhig und doch so erfrischt.
Im Film gibt es ein paar Lieder der Hildegard von Bingen, die Sie selbst singen. Eigentlich geben Sie Schubert und Schumann den Vorzug. Sie gastieren in der Berliner Philharmonie, waren sogar für den Grammy nominiert. Sehen Sie sich inzwischen als Profimusikerin?
Sukowa: Nein, ich lese Partituren leider immer noch nicht flüssig wie ein Buch. Und live ist immer schwer, ganz besonders, wenn man mit den großen Orchestern wie dem Cleveland Orchestra oder den Berliner Philharmonikern auftritt. Das ist toll, aber anderseits muss man enorme Präzision beweisen. Da kann man sich keine Sechzehntelnote ausruhen. Hildegard von Bingens Musik zu singen, hat mir sehr gefallen: Sie ist schön, aber auch ein bisschen ungewöhnlich.