Essen. Verstörendes Beziehungs-Inferno im düsteren Horrormärchenwald: Lars von Triers Film „Antichrist” wird das Publikum mit seinen Bildern faszinieren oder abstoßen, aber nie unberührt lassen.

Antichrist

Deutscher Kinostart: 10.09.2009

Regie: Lars von Trier

Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe

„Bis an die Schmerzgrenze”: Wie oft hat man diese Formulierung in der Kunst schon benutzt. Nicht ahnend, dass ein Filmemacher wie Lars von Trier kommen muss, um diesen Satz wirklich nachfühlbar zu machen. Wenn man sich nach zwei Stunden aus dem Seelen-Schraubstock des dänischen Regie-Sonderlings allmählich befreit, um aus dem Beziehungs-Inferno im düsteren Horrormärchenwald wieder zaghaft ins Taghelle vorzudringen. Noch ungläubig, was man da eben gesehen hat.

„Antichrist” ist ein Film, dem man sich vom ersten Moment an ausgeliefert fühlt. Bei seiner Premiere in Cannes flüchteten sich selbst hartgesottene Kinokritiker nach der Vorstellung entweder in verstörtes Schweigen oder laute Empörung. Voller Schock und Schauer über diese Mischung aus Horrortrip und Psychoporno. Man kann sich von den Bildern fasziniert oder abgestoßen zeigen, unberührt lässt einen der Film nie.

Horrortrip und Psychoporno

Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe in Lars von Triers
Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe in Lars von Triers "Antichrist". © Copyright MFA+ FilmDistribution e.K. © MFA

Schon das packende, schwarzweiß abgedrehte Vorspiel dieses Vierakters verliert keine Zeit. In Großaufnahme sieht man das Elternpaar beim Geschlechtsakt unter der Dusche. Der kleine Sohn schaut für einen Moment zu, der Freudsche Urmoment lässt Böses ahnen, aber nicht das: Das Kind steigt mit dem Teddybären aufs Fensterbrett und scheint für einen Moment engelsgleich zu fliegen. Sterben in Slowmotion. Dann kommt der Aufprall, der Tod, die Verzweiflung. Und grausam rieselt der Schnee.

Mit „Tears in Heaven” hat der Sänger Eric Clapton vor Jahren einmal den Fenstersturz seines vierjährigen Sohnes verarbeitet, eine „sentimental journey” zu den Gründen tiefer Verzweiflung. Bei Lars von Trier hört man Händels Klage-Arie aus „Rinaldo”, als müsse die Fallhöhe noch gesteigert werden: Von den Gipfeln der Lust und der Kunst ins tiefe Tal der Tränen.

Ein Höllenort namens Eden

Bei der Frau (Charlotte Gainsbourg) brechen durch den Schmerz und die Trauer Urängste auf, die ihr Mann (Willem Dafoe), der Psychologe, mit seiner seltsam unbeteiligten Seelen-Technokratie zu behandeln versucht. Statt auf die Couch schickt er seine Frau an einen Höllenort namens Eden. In diesem verwunschenen Wald wird die wild wuchernde Natur der Nährboden alles Bösen, brechen animalische Triebe und wilder Hexen-Wahn aus der Frau hervor und der geschundene Mann muss sich wie ein verletztes Tier in einer Höhle verkriechen. An diesem unheimlichen Ort, wo die Bäume wie Totempfähle in den Himmel ragen, sagen sich Fuchs und Hase nicht „gute Nacht”, sondern „Chaos regiert”.

Eine Art Eigenbluttherapie mit fremden Wunden

Willem Dafoe in Lars von Triers
Willem Dafoe in Lars von Triers "Antichrist". © Copyright Christian Geisnaes

Es sind solche Momente, in denen man wieder zu zweifeln beginnt, wie ernst es von Trier mit den Dämonen nimmt – mit denen seiner Figuren und den eigenen. „Antichrist”, das hat der inzwischen oft erklärt, sei die Bewältigung seiner eigenen Depressionen und einer tiefen Schaffenskrise. Eine Art Eigenbluttherapie mit fremden Wunden. Und man weiß nicht, was dabei mehr schmerzt: Der scheuen, kompromisslosen Charlotte Gainsbourg (in Cannes zurecht mit dem Darsteller-Preis ausgezeichnet) bei ihrer sadomasochistischen Selbstverstümmelung und -befriedigung zuzusehen oder dem scharfkantigen Willem Dafoe mit seinem humpelnden Schwellfuß.

So abrupt dieses Umschlagen von Liebe in Hass geschieht, das aus dem Paar eine Kampfgemeinschaft bis aufs Blut macht, so abrupt findet von Trier zum Finale aus dem düsteren Wald in eine lichte Auferstehungsphantasie.

Erlösung gibt es in diesem Film nicht. Nur das lange Nachwirken einer schauspielerischen Tour de Force.