Essen. Globalisierung. Flüchtlinge. Drohnen. Die Investitionsruine Jade-Weser-Port. Der Tatort aus Wilhelmshaven lässt all diese Themen einmal anklingen, schafft es jedoch nicht, sie in einer schlüssigen Story zusammenzubringen. Auf Twitter stellen sich die Zuschauer vor allem eine Frage: „Hä?“
Wotan Wilke Möhring hat viele Fans. Im Tatort „Kaltstart“, Wilhelmshaven, der am Sonntagabend lief, wird der Schauspieler daher erst mal ernst genommen, gefeiert sogar. Viel ruhiger, viel klüger, viel besser als Til Schweiger finden ihn die Zuschauer auf Twitter – obwohl Ermittler Thorsten Falke, den Möhring in diesem Tatort mimt, bisher kaum etwas gesagt hat.
Er hat eine schlechte Nachricht erhalten, eine sehr schlechte sogar. Eine Kollegin von ihm ist bei einer Gasexplosion getötet worden, die Ermittlungen laufen drunter und drüber und Falke muss einen Monat früher anfangen zu arbeiten. Wirklich gut macht er das nicht, er schnauzt Kollegen an, ist mürrisch, einsilbig. Der Tod seiner Kollegin – mit der er eine Affäre hatte – geht ihm nahe. Das bringt Möhring perfekt rüber.
„Wotan Wilke Möhring schafft es übrigens, in 6 Minuten mehr Ausdruck ins Schauspiel zu legen, als Til Schweiger in 90“schreibt Pascal Fedorec auf Twitter. Andererseits merken die Zuschauer schon jetzt, dass es nicht so einfach, ausdrucksstark und spannend bleiben wird.
Wie hat Wotan Wilke Möhring als Tatort-Ermittler "Arbeiterhände" geerbt?
Denn die Ermittler haben nicht nur eine Gasexplosion zu klären, sondern auch einen Container mit Flüchtlingen hochgenommen, wahrscheinlich aus dem Kongo, die in Deutschland auf einem Schlachthof arbeiten sollen. Hier erlaubt sich der Tatort eine kurze Schrecksekunde. Verhör. Der Hafenarbeiter erzählt: „Dass die alle innen Schlachthof kommen, die Afrikaner“ Kommissar Falke fragt entsetzt: „Auf'n Schlachthof?“ „Na, zum Arbeiten“.
Dann erzählt der Ermittler von seinen Händen. Das hätte er, zumindest wenn es nach den Logik-begabten Zuschauern geht, besser nicht tun sollen: „Wie kann man denn Arbeiterhände vom Vater erben?“ fragt Ulrike Walter-Libow. Für den verhörten Hafenarbeiter, mit dem er jetzt über Löhne, Ungerechtigkeit und Globalisierung reden kann, scheint es aber gereicht zu haben. Eins von vielen Klischees in diesem Tatort, der zu viel will – und daran schon nach einer halben Stunde sichtbar scheitert.
Eins zumindest gelingt dem Wilhelmshavener Tatort streckenweise gut: Atmosphäre. Wenn Ermittler Falke mit seinem Freund am Meer steht, viel geraucht und wenig gesprochen wird, ist das zwar ein bisschen vom Bild her arg nah an der Jever-Werbung, aber zumindest dicht und emotional. „Maloche. Hafen. Wollpullis. Vollbärte. Theatralisch rauchen. Dünen. Bedeutungsschwangere Musik. Ein #tatort mit Pathos. #pathort“, fasst @MatthiasBLN zusammen.
Viele Twitterer konnten beim Tatort "Kaltstart" nicht mehr folgen
Die 90 Minuten mit dem diesem Tatort werden unterwegs trotzdem ganz schön lang, die „gähn“ und „boring“-Kommentare werden mehr und mehr, einige Zuschauer verlangen nach dem nächsten Mord. Den gibt es aber, vorerst, nicht. Stattdessen wird es jetzt, es ist ja ein Tatort, grundsätzlich und gesellschaftskritisch.
Die Kongolesen bekommen vermutlich kein Asyl, obwohl Ermittler Thorsten Falke es ihnen in Aussicht gestellt hat, die internationale Was-auch-immer-Mafia beobachtet die Kommissare auf Schritt und Tritt per Superdrohne, dann geht es um Waffen, Rohstoffe, Warlords. Besonders die Afrika-Klischees, die in einer der schwächsten Szenen des Krimis – Falke und seine Co-Ermittlerin am Hafen, nachdenkliche Sätze ins Nichts geworfen, der Versuch, die ganze Welt mit Blick aufs Meer zu erklären – ausgebreitet werden, verärgern die User auf Twitter.
Die beste Figur im "Kaltstart"-Tatort: Durchgedrehter Dreier
Die beste Figur des Abends haben die Drehbuchschreiber in einem Verdächtigen namens Dreier entworfen. Genau wie viele andere hat er im Jade-Weser-Port ein großes Geschäft gewittert und Insolvenz gefunden. Nun steht er, Tennisbälle um sich werfend und gegen Wände tretend, in einer großen leeren Halle, treibt Ermittler Falke in den Wahnsinn.
Die Kamera erzählt in großartigen, einfachen Bildern vom Scheitern eines Mannes. „Lieber @Tatort - diese Szenen mit Hr. Dreier sind GROßES KINO. Der ist so schön verrückt - like ;) #tatort“ schreibt Lena-Sophie Müller und fasst damit die Stimmung vor den Bildschirmen gut zusammen. Seinen großartigsten Moment beschert Dreier die Frage nach seinem Alibi. Denn ja, Dreier hat eins: "Ich hatte mich an meinen Semi-Tieflader gekettet.“ Zur Tatzeit versteht sich. Bis sie ihn losgeschnitten hatten, vergingen Stunden, eine Zeitungsmeldung (mit Foto!) beweist es.
Nach diesem Höhepunkt allerdings kommt nicht mehr viel. Das internationale Verbrechen schießt von seiner Drohne aus auf Verdächtige, die vielleicht reden können, dann aber sterben, die Kommissare verstehen nichts mehr, die Zuschauer auch nicht. „Hä?“ „Was jetzt?“, ist alles, was noch auf Twitter läuft. So begeistern sich nur die allergrößten Fans von Wotan Wilke Möhring sowie Spezialisten für Kameraführung für den „Kaltstart“. Und natürlich: Alle, die offene Enden für einen Wert an sich halten. Hier aber wirkt das Nichts am Schluss nach dem, was es wohl auch war: Die Macher wussten irgendwann selbst nicht mehr, wo sie mit all dem hin wollten.