Köln. Ägypten ist ein zerrissenes Land. Manche leben westlich, andere leben nach extrem konservativen islamischen Vorschriften. RTL-Reporterin Antonia Rados entdeckte zwei Schwestern, die genau für diesen Konflikt stehen. Im Interview erzählt sie, warum die Dreharbeiten eine Herausforderung waren.

Antonia Rados hat in Kairo zwei Schwestern porträtiert, deren extrem gegensätzliche Lebensstile die Spaltung des Ägyptens mustergültig zeigen. Dina ist die Starbauchtänzerin des Landes schlechthin, Rita hingegen wurde Salafistin. Ein Jahr lang begleitete die RTL-Korrespondentin die beiden Frauen. Zusammengefasst hat sie die Gespräche in dem Porträt „Meine Schwester, meine Feindin“ (Sonntag, RTL, 23.20 Uhr). Jürgen Overkott sprach mit der Auslandsreporterin.

Wie ist es, ein Gespräch mit einer fast vollständig verschleierten Frau führen?

Antonia Rados: Es hat mich schon ein wenig irritiert, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Warum verdecken Frauen in Ägypten ihr Gesicht?

Rados: Sie ist eine streng gläubige Salafistin, die sich auf die Frau des Propheten beruft, von der es heißt, sie habe ihr Gesicht verdeckt. Weil sie diese Form der Religiosität ausgewählt hat, trägt sie einen Gesichtsschleier, und deshalb trägt sie auch Handschuhe. Journalistisch ist das eine Herausforderung, weil ihre Emotionen schwer zugänglich sind. Ich hatte immer die Hoffnung, dass sie bereit ist, den Schleier mal abzulegen. Das ist nie geschehen. Und dennoch habe ich ihr Gesicht einmal gesehen.

Wie kam das?

Rados: Wir waren alleine, sie, ich und nur eine einzige Freundin von ihr, die Kinder waren weg, und plötzlich hat sie den Gesichtsschleier völlig unerwartet aufgehoben, sah ich mich an und fragte mich: Wie sehe ich aus?

Was sprach aus dem Gesicht?

Rados: Aus dem Gesicht sprach Weiblichkeit, eine Mischung aus Neugierde, Eitelkeit und Komplexen. Sie hatte relativ schnell wieder den Schleier heruntergezogen, und dann kam ein irritierendes Statement: Der Schleier sei so gut, weil dann die Haut weiß bleibe.

Wie muss ich mir den Charakter dieser Frau vorstellen?

Rados: Sie ist eine sehr, sehr religiöse Frau.

Das ist unter Christen und Juden auch anzutreffen.

Rados: Es ist gibt in unserer, aber eben auch in der ägyptischen Gesellschaft, am äußersten Rand Menschen, die sehr religiös sind. Das Interessante an ihr ist, dass Rita früher Nachtclub-Sängerin war, bis 2001. Dann gab sie plötzlich das Rauchen auf, das Tanzen, auch den Gesang, und geriet sie in salafistische Kreise.

Was hat den Wandel verursacht?

Rados: Offensichtlich ein Begräbnis. Ein Schwager war jung an Krebs gestorben. Es war die Konfrontation mit dem Tod. Sie war auf einer Sinnsuche und hat sich gesagt, meine Nachtclub-Karriere kann doch nicht alles gewesen sein.

Welchen Hintergrund hatte sie?

Rados: Sie war schon früher religiös, wurde aber nicht religiös erzogen. Interessant ist, dass wir glauben, Salafistinnen werden von ihren Ehemännern zu dieser Haltung gezwungen - sie hat sich selbst dafür entschieden. Sie kommt aus einer Familie mit einem völlig westlichen Lebensstil; ihre Schwester ist die berühmteste Bauchtänzerin in ganz Ägypten.

Wenn wir an Salafisten denken, denken wir nicht nur an Religion, sondern mehr noch an Krieg. Das ist das Abziehbild.

Rados: Die Realitäten im Nahen Osten sind extrem kompliziert. Es gibt Salafisten, die sehr militant sind, es gibt aber auch Salafistinnen, die sich wie Nonnen zurückziehen und nur noch für ihren Glauben leben. Allerdings war es bei ihr so, dass sie nichts getan hat, keinem Dreh zugestimmt hat, ohne vorher ihren salafistischen Prediger zu befragen. Sie sah es als völlig selbstverständlich an, dass Frauen keine Rechte haben.

Warum die Situation für Frauen in Ägypten sehr widersprüchlich ist 

Sie kommt aus der Mittelschicht. Da bedeutet Rechtlosigkeit der Frau sicher etwas anderes als bei armen Schluckern.

Rados: Die Situation der Frauen ist sehr widersprüchlich. Arme Frauen haben oft nur die Niqab; sie ist aber für sie zugleich ein Schutz, um, wenn sie beispielsweise als Putzfrau in Reichen-Vierteln arbeiten, unbehelligt Bus fahren zu können.

Wie lebt Ihre Gesprächspartnerin?

Rados: Sehr bescheiden. Sie hat sich für eine ärmliche Wohnung, und sie hat auch nur drei oder vier Niqabs. Es gibt auch Salafistinnen, die 40 oder 50 Niqabs haben.

Wie kommt diese Frau mit ihrer Schwester zurecht, die als Bauchtänzerin arbeitet?

Rados: Das ist ein sehr explosiver Cocktail. Das ist kein Einzelfall. Das finden Sie in Ägypten immer: Ein Bruder ist Moslembruder, der andere gehört zum Militär. Was sich draußen auf der Straße abspielt, spielt sich bei vielen Familien am Essenstisch ab.

Muss man sich das so vorstellen wie die unerbittlichen politischen Diskussionen im Deutschland der 70er-Jahre?

Rados: Es gibt heftigste Diskussionen. Die beiden Schwestern haben ihre Debatten teilweise vor der Kamera geführt: Wem gehört Ägypten - den Salafisten oder den Liberalen?

Manche Familien finden dennoch einen gemeinsamen Nenner. Wie sieht das bei den Schwestern aus?

Rados: Ja, das gibt es. Die beiden Schwestern sagen: Wir reden einfach nicht drüber. Religion ist ein Tabu am Mittagstisch. Aber dennoch bricht der Konflikt immer wieder durch, und dann gibt es Phasen, in denen die Schwestern überhaupt keinen Kontakt zu einander haben.

Sie leben in getrennten Wohnungen.

Rados: Die eine sehr reich und schwelgt im Luxus, die andere lebt zwar in der Nähe, aber in einem Armen-Viertel. Manch muss sich das bei der Bauchtänzerin so vorstellen: Sie ist eine Art Superstar, vielleicht so ähnlich wie Helene Fischer. Jeder kennt alles von ihr, es gibt Sex-Skandale, Sex-Aufnahmen. Sie ist eine völlig umstrittene Person. Und die beiden Schwestern schämen sich gegenseitig für einander.

Sind die Lebensstile in einer Millionenstadt wie Kairo nach Stadtteilen aufgeteilt?

Rados: Ja. Wobei das Arme nicht immer das Fromme ist. Der Nahe Osten ist eine Region, wo Tee getrunken wird. Westliche Stadtteile können Sie daran erkennen, dass es Starbucks-Cafés gibt.

Fühlen Sie sich in Kairo zuhause?

Rados: Ich bin und bleibe eine westliche Journalistin. Ich trage kein Kopftuch. Ich passe mich diskret an, aber man muss sich immer klar darüber sein, wer man ist.

Wie sieht es mit Sympathien für politische Strömungen im Land aus?

Rados: Man muss eine gewisse Äquidistanz halten, um so kühl und so objektiv die beiden Seiten dieser Gesellschaft zu sehen.

Was ist vom arabischen Frühling übrig geblieben?

Rados: Viel mehr, als wir glauben. Es ist die Jugend, die aufbegehrt hat. Die sehen wir jetzt auch in der Ukraine und in Rio. Wir sehen sie auch in Thailand. Diese Freiheiten, die sich die ägyptische Jugend in wenigen Monaten erkämpft hat, wird ihr nie mehr jemand wegnehmen. Aber man muss wissen: Die Region war immer instabil. Durch den arabischen Frühling wird sie noch instabiler. Am Morgen die Revolution und am Abend die Demokratie, das geht nicht. Die Bilanz ist sehr unterschiedlich: In Tunesien haben wir eine eher liberale Verfassung, in Ägypten haben wir eine Militärdiktatur, in Syrien einen blutigen Bürgerkrieg. Insgesamt bin ich nicht sooo pessimistisch.

Sie haben in langen Berufsjahren viel Gewalt gesehen. Wird man da irgendwann zynisch?

Rados: Wenn es die Gefahr gibt, dann gibt es sie nicht bei mir. Ich bin immer noch so betroffen von Elend wie am ersten Tag. Ich kann das nicht so abschütteln. Den Mantel des Zynismus, den man sich umlegen könnte, finde ich völlig unangebracht. Ich finde, man ist den Leuten schuldig, dass man sie ernst nimmt. Diese Haltung lege ich auch nicht ab.