Düsseldorf. . Sensationell gewann ein Land, das nicht einmal in Europa liegt, beim Eurovision Song Contest. Sensationell war auch die Show. Was es dem Sieger Aserbaidschan, der im nächsten Jahr Veranstalter sein wird, nicht gerade leicht macht.

Spät in der Nacht herrscht Ratlosigkeit beim Sicherheitspersonal. „Wo liegt eigentlich dieses Aserbaidschan?“, will ein Wachmann von seinem Kollegen wissen. Doch der zuckt die Schultern. „Ich weiß nicht mal, wie man das schreibt.“ Ein paar Meter weiter wissen sie nicht nur das. Denn da sitzen „Ell & Nikki“, die soeben mit „Running Scared“, einer seichten, eingängigen Sommerpop-Nummer den 56. Eurovision Song Contest gewonnen haben. Für Aserbaidschan.

„Geheimtipp“ haben die Ex­perten nach dem ersten Halbfinale hinter den Namen der beiden geschrieben. Für das Publikum vor den Fernsehern waren sie dennoch „Überraschungssieger“. Und un­ter den 36 000 Fans, die am Samstagabend im großen Rund der Düsseldorfer Arena sitzen, sind nicht wenige, die an­schließend von „einer Sensation“ sprechen. Weil nach der Stimmung, die in der Halle herrschte, ganz andere hätten vorne landen müssen.

Pappmasken ausverkauft

Die englische Gruppe „Blue“ etwa, bei deren Auftritt die Bühne konträr zum Bandnamen in grün leuchtete. Oder Jedward, die schon die „irren Iren“ genannt werden und de­nen man zurufen möchte: „Was immer ihr nehmt, Jungs, nehmt weniger.“ So toll finden viele die hochstehenden Frisuren der Zwillinge, dass die Pappmasken, die vor der Arena verkauft werden, binnen kurzer Zeit vergriffen sind. Bei ihnen jubelt die Halle. Genau wie bei Kati Wolf, die für Un­garn singt und aussieht wie Céline Dions ältere Schwester – obwohl sie viel jünger ist. Bei Lena, das war zu erwarten, to­ben die Menschen in der Halle schon, als sie noch neben der Bühne steht. Und hören nicht auf, als sie längst wieder verschwunden ist.

Doch viel überraschender als der Sieg des aserbaidschanischen Duos ist der Absturz der Künstler, die im Vorfeld als Favoriten gehandelt wurden. Amaury Vassili etwa, der mit der klassisch angehauchten Nummer „Sognu“ für Frankreich antrat und für den die Buchmacher zwischenzeitlich kaum noch Wetten annehmen wollten. Am Ende steht er auf Rang 15. Oder Alexey Vorobyov, der Russe, dessen Nummer „Get You“ von Lady-Gaga- Hit­­autor RedOne mitgeschrieben wurde und der trotzdem nur auf Platz 16 landet.

Stattdessen kämpfen plötzlich Länder um den Sieg, die niemand, wirklich niemand auf dem Plan hat. Allen voran Italien, das 14 Jahre gar nicht dabei war und nun mit dem Jazzsänger Raphael Gualazzi auf Platz zwei schießt. In der Halle wird der 29-Jährige mit seinem swingenden „Madness of Love“ zu Kenntnis genommen. Mehr nicht. Draußen, in den 43 stimmberechtigten Län­dern, muss es anders gewesen sein. Was wieder einmal zeigt, dass es einfacher ist, Weihnachtswetter im August vorherzusagen als die ersten Plätze bei einem Eurovision Song Contest.

Ein Spektakel, das schwer zu toppen ist

Doch dieser Gesangswettbewerb wird nicht nur wegen der Überraschungen in Er­in­nerung bleiben, sondern auch für die perfekte Show, die die ARD auf die Beine gestellt hat. 25 Millionen hat sie gekostet. Das ist viel Geld und stammt zum Teil sogar aus TV-Gebühren. Aber es ermöglichte eine Show, wie man sie in Deutschland noch nicht ge­sehen hat. In der Funken sprühten und Blitze zuckten und eine gigantische Videoleinwand Effekte ermöglichte, die kein Fernseher adäquat übertragen kann. Aserbaidschan jedenfalls wird es schwer haben, dieses Spektakel zu toppen.

Ell & Nikki ist das in dieser Nacht noch egal. Auch eine halbe Stunde nach dem Sieg kann es die 30-jährige Mutter von zwei Kindern nicht fassen und ringt um Worte. Ihrem Partner Eldar Gasimov (21) geht es nur unwesentlich besser. „Unglaublich“, sagt er, dankt Gott und der Welt und stellt fest: „Ich liebe Euch alle.“

Ob sie auf Tour gehen werden will jemand wissen. „Wir haben ja nur ein Lied“, bedauert Ell. Soll sich aber ändern. „Wir wollen noch mehr ma­chen“, kündigt Nikki an, die extra für den Wettbewerb aus ihrer Wahlheimat London nach Hause zurückgekehrt ist und sich einer mehrmonatigen Vorausscheidung gestellt hat.

Auch sonst bleiben Fragen. Zum Beispiel die nach der Zeitverschiebung von drei Stunden. Soll der ESC 2012 wieder zur besten Sendezeit starten, darf er in Aserbaidschan erst um Mitternacht be­ginnen. Ell zuckt die Schultern und druckst auch ein wenig herum, als er gefragt wird, ob man in seiner eher traditionell orientierten Heimat auch tolerant gegenüber Ho­mosexu­el­len sei. „Alle werden willkommen sein.“

Kurz vor Ende der Pressekonferenz springt ein Mann vom aserbaidschanischen Fern­­sehen auf. Eine Kosakenmütze trägt er zu glänzendem Lackschuh und dunklem An­zug und hat auch noch eine Landesfahne in den Pelz der Kopfbedeckung gebohrt. Eine Frage hat er nicht, sondern will nur mal was loswerden. „Ich bin stolz.“ Ell auch. Wird alles gut werden im nächsten Jahr, sagt er. Zumindest so gut, dass dann jeder weiß, wo es liegt, dieses Aserbaidschan.